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In New York City leben eineinhalb Millionen Juden. In keiner Stadt auf der Erde, einschließlich Tel Aviv und Jerusalem, leben mehr Menschen jüdischen Glaubens. Und außerhalb Israels ist es die größte zusammenhängende jüdische Gemeinde.

David Ingber (d.i.) ist Rabbiner in Manhattan.

Michelle Dardashti (m.d.) mit iranischen Wurzeln ist Rabbinerin.

Ebenso Angela Buchdal (a.b.), ursprünglich aus Südkorea kommend, ist nach New York eingewandert.

In Israel geboren ist der Rabbiner Amichai Yehuda Lau Lavie (a.l.), auch er ist New Yorker.

„Ich glaube, dass wir künftig von einem Israel vor dem 7. Oktober sprechen werden und von einem danach. Und Gleiches gilt für das Judentum insgesamt, also auch für uns hier in New York. Es wird von nun an ein Vorher und ein Nachher geben.“ (d.i.)

„Es ist, als hätten sich die Kathedralen des Wissens und des Liberalismus (gemeint sind die Universitäten) gegen uns gestellt. Das ist ein furchtbares Gefühl, denn wenn die Institutionen des Geistes nicht verstehen, was wirklich passiert ist, wer dann?“ (d.i.)

„Das ist nicht bloß ein bisschen Antisemitismus hier und da. Es passiert gerade etwas Größeres, und das ist ebenso gefährlich wie beängstigend. Ich habe nie zuvor in meinem Leben das Gefühl gehabt, dass die jüdische Gemeinschaft sich so verletzlich fühlt, so aufgewühlt, so wütend und zugleich verängstigt und isoliert.“ (a.b.)

„Im Jahr2000 kandidierte der Politiker Joe Liebermann als Vizepräsident der USA, als erster Jude. Juden waren so sichtbar. Und ich habe wirklich gedacht, die Zeit des Antisemitismus sei damit vorbei. Das geschieht jetzt im Amerika des Jahres 2023. Und da muss man fragen: Was passiert hier gerade?“ (a.b.)

„Ich bin niemand, der Israel blind und unkritisch verteidigt. Ich bin für die Rechte der Palästinenser, man kann sogar sagen: Ich bin pro Palästina. Ich verneine keineswegs, dass die Palästinenser Unterdrückung und Ungerechtigkeit erlebt haben. Aber das rechtfertigt nicht, unschuldige Menschen abzuschlachten. Und es rechtfertigt auch nicht, diese Terroristen als Freiheitskämpfer darzustellen.“ (a.b.)

„Wir Juden befinden uns derzeit gewissermaßen auf einer Arche. Und wir wissen nicht, wie lang die Flut dauert und was uns erwartet, wenn sie vorbei ist. Sicher ist nur, dass es uns massiv verändern wird.“ (m.d.)

„Ich bin gekommen, um allen zu sagen, dass ich bei ihnen bin, dass sie nicht allein sind. Das gilt auch für meine palästinensischen Freunde. Wo sind in New York die Freunde? Wo sind die Verbündeten? Wo sind die Menschen in dieser Stadt, die sagen, es ist kompliziert, wir wissen das, aber was können wir tun, wie können wir helfen? Ich wünschte, die Menschen hätten mehr emotionale Intelligenz im Umgang mit so einer Krise, statt in einer Art zu handeln, die anderen wehtut.“ (l.l.)

„In Israel haben wir im Moment keine weitsichtige Führung, die uns in eine sicherere Welt führen wird. Dabei müssten wir strategisch und diplomatisch fünf Schritte im Voraus denken, zehn Schritte. Wie können wir Freundschaften aufbauen, die einen weiteren Krieg verhindern? Das ist keine Frage, die wir in der jetzigen Lage rasch beantworten können, aber ich kann im Namen vieler meiner palästinensischen und vieler meiner israelischen Freunde sagen, dass wir genau daran arbeiten müssen.“ (l.l.)

„Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir den Konflikt gar nicht lösen müssen. So wie Leugner des Klimawandels glauben, es werde ihnen selbst nichts Schlimmes passieren. Vielleicht haben wir uns unter einer Art Schutzschild versteckt, statt der Realität ins Auge zu schauen. Jetzt ist das Schlimmste passiert, und es ist klar, dass wir eine Lösung finden müssen.“ (m.d.)

„Was damals unter den Nazis passiert ist, war so unbegreiflich schrecklich, dass es in vielen Teilen der westlichen Welt danach keinen Antisemitismus mehr gab. Zumindest äußerte sich niemand mehr öffentlich in diesem Sinne. Jetzt aber sind die meisten Überlebenden tot oder sehr, sehr alt, und vielleicht führt das dazu, dass gewissermaßen die Impfung abläuft. Dass das Geschwür des Antisemitismus wieder wächst.“ (a.b.)

„Ein Trauma wird erst wirklich schlimm, wenn man in der Folge die fundamentalen Überzeugungen verliert, auf denen man sein Leben gründet. Als Jüdin, als Rabbinerin und als Mensch glaube ich weiterhin daran, dass die Menschen im Grundsatz gut sind. Und ich glaube immer noch, trotz allem, dass die Welt prinzipiell ein guter, ein sicherer Ort ist, und dass sie eine Ordnung hat.“ (a.b.)

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Eine Demokratie, das politisches System braucht den Konservatismus und es braucht konservative Menschen, damit Stabilität gewährleistet ist. Unabhängig von einem ausbuchstabierten Parteiprogramm sind dem zum Konservatismus neigende Menschen an diesen Haltungen erkennbar: Sie vermeiden Veränderungen und haben ein Bedürfnis nach grundsätzlicher Kontinuität in allen möglichen Lebenslagen.

Das gilt für den gesellschaftlichen und für den politischen Bereich. Gewohnheiten, Routinen und Lebenspläne werden sinnigerweise mit dem Phänomen Trägheit assoziiert. In einer möglichst zäh dahinfließenden Wirklichkeit soll es ruhig zugehen und ruhig bleiben.

Nun leben wir seit einiger Zeit nicht mehr in ruhigen, unbewegten Zeiten. Früher war alles besser. Ja, dieser Aussage kann inzwischen nahezu jeder zustimmen. Und das Gefühl Um-der-guten-alten-Zeiten-wegen beunruhigt veränderungsunwillige Leute ganz besonders. Sie sind aber auch in krisenhaften Zeiten rasch zu emotionalisieren und empfänglich für alles, auch für alles Ungute.

Dieses Potential (an Erregung) hat bereits ein Maß erreicht, wo Vernunft keine Rolle mehr zu spielen scheint. Die konservative und träge Masse wird einerseits in neue, Spielbällen ähnlichen Passivitätsformen geführt, andererseits zu einer manipulierbaren Anhängerschaft von nur Böses im Schild führenden Kräfte verführt.

Dem Konservativismus werden so Dinge aufgenötigt, die ihm eigentlich wesensfremd bis zuwider sind. Ein stetig verschärfender Prozess, der in seiner Trivialität unbegreiflich scheint. Ein Populismus von rechts peitscht den gemäßigten, programmatisch von Solide auf Zerstörung und vom Kopf auf die Füße gestellten Konservativismus vor sich her. Populisten Parole: Ängste verursachen, diese Ängste missbrauchen. Ein Menetekel von vielen beispielhaften Anzeichen drohenden Unheils: Der unter konservativ ethisch-moralischen Gesichtspunkten nur als Schmierfink zu bezeichnende 45. US-Präsident als Gallionsfigur der christlichen Fundamentalisten.

In nahezu allen westlichen Demokratien sind diese Perversionen zu beobachten. Es ist nicht nur ein Verlust des so wichtigen Prinzips Vertrauen. Diese zwischenmenschliche Tugend, im guten Sinne wertkonservativ, zerfällt.

Ein besonders beunruhigendes Beispiel, das sind, siehe oben, die Vereinigten Staaten von Amerika, wo große Teile der konservativen Partei und deren Anhänger inzwischen Ergebnisse von Wahlen anzweifeln, einen Umsturzversuch eines abgewählten Präsidenten gutheißen. Auch die Mitglieder der konservativen Parteienfamilie in Europa werden anfälliger, seien es die Tories in Großbritannien oder womöglich bald Brandmauer einreißende Christdemokraten in Deutschland.

Den Parteien und ihre Wähler, die sich weiterhin im politischen Spektrum Mitte-Rechts verorten, möchte man zurufen: Bleibt weiterhin konservativ!

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Heute ist Reformationstag. Es wird der Kirchenspaltung gedacht. Diesem Schisma folgten verheerende Religionskriege. Heute ist gleichfalls Halloween. Ein Tag des Schreckens. Eine gute Gelegenheit, an die großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte zu erinnern.

Bisher ist man davon ausgegangen, dass die größte Katastrophe auf Erden ein Vulkanausbruch vor 74 000 Jahren gewesen ist. Neuere Forschungen sehen nun aber ein noch früheres Ereignis als das ultimative Armageddon der Menschheitsgeschichte an.

Wie gesagt, es passierte vor 74 000 Jahren als der Vulkan Toba auf Sumatra explodierte. Er blies Asche und Schwefel in die Atmosphäre, es wurde kalt. Nur wenige Tausend Menschen sollen damals weltweit überlebt haben.

Jetzt gibt es Hinweise auf eine weitere Superkatastrophe, die die Folgen des Vulkanausbruchs noch in dessen Asche-Schatten stellen könnte.

Der Biologe Wang jie Hu von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften hat vor Kurzem mit seinem Team im Wissenschaftsmagazin Science berichtet, dass es im Erbgut heutiger Menschen Hinweise gibt, dass es vor etwa 930 000 Jahren einen sehr engen genetischen Flaschenhals gegeben haben muss.

Das würde bedeuten, der Großteil der damaligen Urmenschen muß damals zugrunde gegangen sein. Betroffen waren Menschenarten wie Homo erectus, Homo heidelbergensis und Homo antecessor. Diese menschlichen Spezies gelten als Vorläufer des Homo Sapiens, aber auch von Neandertalern und der Gruppe der Denisovanern. Sie müssen am Rande der Auslöschung gestanden sein. (Im Übrigen sehen viele Protestanten auch die Katholiken als Vorläufer ihrer Konfession - doch dies nur am Rande des Abgrunds).

Die Wissenschaftler untersuchten Gensequenzen von ca. 3000 lebenden Menschen aus zehn afrikanischen und vierzig weltweiten, nichtafrikanischen Bevölkerungsgruppen. Mithilfe neuster Methoden untersuchten die Genforscher dann die Unterschiede zwischen den Genabschnitten und zogen so Rückschlüsse darauf, auf welche Vorläufer die heutzutage aktuellen entsprechenden Gene mit großer Wahrscheinlichkeit zurückzuführen sind und wie viele fortpflanzungsfähige Menschen es damals gegeben haben muss.

Die Untersuchungen ergaben, dass vor 930 000 Jahren innerhalb eines kurzen Zeitraumes knapp zwei Drittel der genetischen Vielfalt verloren gegangen sind. Von knapp 100 000 fortpflanzungsfähige der damals auf der Erde lebenden Urmenschen, seien 98,7 Prozent gestorben. Danach hätten im Schnitt 117 000 Jahre lang  nur noch 1280 fortpflanzungsfähige Individuen gelebt, bevor vor etwa 813 000 Jahren die Bevölkerungszahlen dann wieder erheblich anstiegen.

Was kann die Ursache diese Dezimierung zum Äußersten gewesen sein? Antworten können heute nur spekulativ ausfallen. Es gibt jedoch einen Zusammenhang zu den damaligen Klimabedingungen, darauf weisen prähistorische Umweltstudien hin. Der genetische Flaschenhals falle nämlich zeitlich mit sehr heftigen klimatischen Veränderungen zusammen. Die Erde kühlte ab, Vergletscherungen nahmen zu und verstärkten sich. Auch die Meerestemperaturen sanken. Es kam zu Dürren. Tiere, von denen sich die Urmenschen ernährt hatten, starben aus.

Die vielleicht interessanteste Spekulation: Der genetische Flaschenhals habe sogar dazu beigetragen, langfristig den Homo Sapiens hervorzubringen. Womöglich habe sich damals aus zwei Vorläuferchromosomen das Chromosom Zweigebildet, das Menschen heute von allen anderen noch lebenden Menschenaffen unterscheidet. Diese Änderung habe sich dann vor Zeiten in der kleinen übriggebliebenen Population genetisch durchgesetzt und mit ihr der Urkatastrophe resistente gemeinsame Vorfahre von Homo Sapiens, Neandertalern und Denisovanern

Offene Fragen bleiben natürlich. Wie ist es den Vormenschen gelungen, überhaupt zu überleben? Denn je kleiner eine Population, desto gefährdeter ist sie ja. Selbst Populationen mit einigen Tausend fortpflanzungsfähigen Individuen laufen Gefahr, auszusterben. Sie ist einfach zu klein, um zu überleben. Die Neandertaler in Europa sind ein Beispiel dafür. Falls das Szenario aus China stimmt, hätten unsere Vorfahren sehr viel Glück gehabt.

(Morgen ist Allerheiligen, Feiertag. Der erste Tag des tristen, grauen, dunklen Novembers. Aber auch ein weiterer Tag einer Lotterieziehung mit Menschen glücksuchender Gene.)  

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Vor hundert Jahren, im Jahr 1923, erschien das Buch „Crystallizing Public Opinion“ von Edward Bernays, ein Neffe Sigmund Freuds. Damit schuf er einen Klassiker. Das Buch beschreibt Strategien der Kommunikation, die Steuerung von Meinungen im großen Stil. Es ist eine Agenda zum Phänomen Massenmanipulation. Der Titel der deutschen Übersetzung heißt schlicht Propaganda. Bernays prägte einige Zeit später noch den bis heute populären Begriff Public Relations.

Seine Botschaft: Die Meinung und das Verhalten der Massen können gezielt gesteuert werden. Edward Bernays zeigt, wie das funktioniert. In dem Standardwerk führt er es an konkreten Beispielen seiner Zeit aus. Mit der richtigen PR-Strategie kann auch ein Politiker zur Macht geführt werden und ein Konsumprodukt zu einem großen Verkaufserfolg.

Bernays gilt als Erfinder des „American Breakfast“. Im Auftrag eines Lebensmittelkonzern, sollte er den Verkauf von Speck ankurbeln. Wer lange sucht, findet auch. Unter einer Vielzahl von Ärzten fand er einen Gesundheitsexperten, der die Auffassung vertrat, ein Frühstück mit Ei und Speck sei wesentlich gesünder als eine erste Tagesmahlzeit mit Kaffee und Brötchen. Diese Empfehlung, gut in den Medien lanciert, veränderte kampagnengeführt das Ernährungsverhalten der amerikanischen Bevölkerung peu à peu auf ganzer Linie - „Bacon & Eggs“ist heute ein Standardfrühstück. Es lebe der außen eingreifende Manipulator!

Das PR-Gesetz lautet: Man kreiere ein Ereignis - mitunter genügt es auch, ein solches für seine Zwecke zu nutzen -, sorge für eine emotional aufgeladene Nachrichtenlage und erzeuge aus dieser Gemengelage eine entsprechende Nachfrage bei den Leuten.

Dieses Prinzip gilt auch und insbesondere für die Politik: Aktuellen Beispielen abholt, ein Ereignis aus der deutschen Zeitgeschichte: Unmittelbar nach Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch die Nationalsozialisten 1933 brannte der Reichstag. Dieses Ereignis wurde von den neuen Machthabern medial instrumentalisiert und erzeugte bei der Bevölkerung die Nachfrage: Tausche Freiheit gegen Sicherheit.

Eine PR-Kampagne unterscheidet sich von Werbung. Werbung, gerade im Vergleich, ist eine mehr oder weniger seriöse Form der Bedürfnisökonomie. 

Zuletzt eine Sprachempfehlung, abseits des Gendersternchens: Politiker, insbesondere jene, die auf der populistischen Erregungswelle reiten: Sprecht auf euren Karrieresprossen nicht mehr von Bewerbungen für diesen oder jenen Posten, sondern verkündet ehrlich, ich manipuliere für dieses oder jenes Amt. Auch wenn das jetzt einem Rat zur Honigdiät für Problembären gleichkommt.

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Wenn der Mittelstand immer mehr schrumpft, die Reichen reicher, die Armen ärmer werden, von Interesse, wie es steht um den gesellschaftlichen Status der Menschen. Status repräsentiert die Position auf der „gesellschaftlichen Leiter“ und er bestimmt in der Regel das Verhalten der Leute, auch wenn ihnen das nicht bewusst ist. Mehr noch, Statusdenken ist ein wichtiger Teil des Lebens, doch das Auftreten und die Entscheidungen auf Grundlage des Status werden gerne tabuisiert.

Früher gab es eine unhinterfragte und sozial akzeptierte Hierarchie. Man wurde hineingeboren in die Aristokratie, in das Bürgertum, bereits geboren als Bauer oder als Handwerker. In der Moderne haben die Menschen die Möglichkeit erkämpft, diese Struktur mit Hilfe von Talent und individuellen Fähigkeiten, außer Kraft zu setzen.

In einer demokratischen Gesellschaft, in der ein Gleichheitsideal vorgegeben wird, dieses aber prinzipiell auf Gleichheit der Grundrechte und nicht auf faktische Gleichheit bezogen auf konkrete Lebensumstände beruht, ist „Hoher Status“, bemüht, nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und nicht übermäßig auffällig zu werden.

Andererseits tritt Status aber auch mit Hilfe von Symbolen in Erscheinung, diese sind dann oft materiell bestimmt - z.B. Gegenstände wie Autos oder eine eigene Immobilie. Ein Statussymbol kann aber auch ein Verhalten sein, all dies muss für die anderen dann aber sinnlich wahrgenommen werden: Ein trommelfellplatzendes PS-Geräusch, der aus Sandalen umhauende Parfümduft, der Netzhaut blendende Schmuckbrillant, das Juckreiz verursachende Nerzfell oder das beide Tränensäcke anregende snobistische Personengehabe, Beispiele unheimlicher Begegnung dieser Art.

Dabei widersprüchlich: Ein Statussymbol muss mehr, nicht weniger geleugnet werden, Stichwort Statustabu. Wenn man ein statusträchtiges Auto hat, gleiches Beispiel, wird dieses Fortbewegungsmittel wie selbstverständlich nur als Gebrauchsgegenstand, als Mittel, nicht als Zweck, vom Besitzer in den Vordergrund gerückt. Oder sein Gebrauch, seine Verwendung - ebenso bescheiden (… damit du Bescheid weißt!) - basiere eben auf diese eine fantastische Technik oder einem Design, das perfekt zu einem passe wie das Hawaiihemd zur Bermudahose, das ambitionierte Poloshirt zu meiner Car-go-hose.

Weiteres Beispiel: Das prächtige, pfauenradgleiche Erscheinungsbild meines Selbst. Die Fliegerjacke, diese Fliegeruhr, die meine Reiselust in den sonnigen Süden mit Jetset Sonnenbrille auf der noch blassen, aber schon bald bronze-gebräunten Denkerstirn aufs Vorzüglichste unterstreicht, um im Notfall, techniküberlegend, die Überlegung, die sich noch immer auf made in germany beruft, rein symbolisch das Steuerruder in der Kanzel weiter vorne, mir zu überlassen. Dann weiter vor (Urlaubs)ort, Fortführung der teutonisch-touristischen Vorreiterrolle, insbesondere bezüglich meines Geschmacks, meines Verhaltens, meiner Manieren. Mit Posieren hat dies selbstverständlich, wenn man mich ehrlich fragen würde und ich darauf ehrlich erwidern muss bzw. ehrlich antworten darf, rein gar nichts zu tun.

Posen ist meist ein Phänomen der mir ach so fremden, aber schnell bei anderen mit Nachdruck auszumachenden neureichen Gruppe. Stammt diese doch mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einem ungebildeten Umfeld, zudem einem recht kurzen und armseligen Ast des Stammbaumzweiges. Nicht mein Gestrüpp! Und die, den Parvenüs an Geschmacksverirrung gleichende Schaustellung von Protz, hat rein gar nichts mit meiner an Vorbild überreichen ästhetischen Urteilssicherheit zu tun.

Statussymbole sind jene mit reichlich Kitt versehenden Bindungen einer zur Funktion überführten Horde von Menschen hin zu einer zivilisierten Gesellschaft und leider kollateralgeschädigt durch eine Vielzahl von: maßlosen Peinlichkeiten.

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Wir haben stets die Möglichkeit und die Freiheit, die „Medaille unserer Existenz“ von der einen oder der anderen Seite zu betrachten. Wir können wählen. Dann ist es unsere Willensentscheidung, z.B. Sachen, Dinge, Menschen, Ereignisse, andere Menschen entweder positiv, negativ oder auch gleichgültig zu betrachten und zu beurteilen. So sagt die gewählte Perspektive viel über uns selbst, unsere Selbstwahrnehmung, letztendlich über unser Selbst-Bewusstsein aus.

Tempel der tausend Spiegel

In Indien gab es den Tempel der tausend Spiegel. Dieser lag hoch oben auf einem Berg und sein Anblick war gewaltig. Eines Tages erklomm ein Hund den Berg. Er lief die Stufen des Tempels hinauf und betrat den Tempel der tausend Spiegel:

Als er in den Saal mit den tausend Spiegel kam, sah er tausend Hunde. Er bekam Angst, sträubte das Nackenfell, klemmte den Schwanz zwischen die Beine, knurrte furchtbar und fletschte die Zähne. Und tausend Hunde sträubten das Nackenfell, klemmten die Schwänze zwischen die Beine, knurrten furchtbar und fletschten die Zähne. Voller Panik rannte der Hund aus dem Tempel und glaubte von nun an, dass die ganze Welt aus knurrenden, gefährlichen und bedrohlichen Hunden besteht.

Einige Zeit später kam ein anderer Hund den Berg herauf. Auch er lief die Stufen hinauf und betrat den Tempel der tausend Spiegel:

Als er in den Saal mit den tausend Spiegeln kam, sah auch er tausend andere Hunde. Er aber freute sich. Er wedelte mit dem Schwanz, sprang fröhlich hin und her und forderte die Hunde zum Spielen auf. Dieser Hund verließ den Tempel mit der Überzeugung, dass die ganze Welt aus netten, freundlichen Hunden besteht, die ihm wohl gesonnen sind.

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Der Mensch ist weder gut noch böse. Oder genauer: Er ist nicht ausschließlich das eine oder das andere. Jeder Mensch trägt beides in sich und jeder besitzt ihm eigene Anteile dieser Eigenschaften. Sind sie ihm aber eigen, dann verantwortet er sie auch. Der Mensch hat Zugriff darauf, diese rudimentär entweder beunruhigt oder ruhend in sich liegende Theligkeiten, nein Teiligkeiten, nein Anteiligkeiten, also Anteile, zu ändern, wenn er denn will, wenn er denn kann.

Von den zwei Wölfen in uns

Eines Abends erzählte ein alter Cherokee-Indianer seinem Enkelsohn am Lagerfeuer von einem Kampf, der in jedem Menschen tobt. Er sagte: „Mein Sohn, der Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen.

Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorgen, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.

Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.“

Der Enkel dachte einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach, und fragte dann: „Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“

Der alte Cherokee antwortete: „Der, den du fütterst.“

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Schaut man in die Social-Media-Plattformen, scheint folgende Aussage wie aus einer anderen Welt:

Die Wahrheit in der Kritik zu sagen, ist das Wenigste. Die Voraussetzung: es kommt darauf an, wie man sie sagt. Ich dachte, die Kritik auf eine Stufe zu bringen, wo sie eine dichterische Kunst sein kann.“

Sie stammt aus einer anderen Zeit. Gestern jährte sich der 75. Todestag des Schriftstellers und Kritikers Alfred Kerr.

Zu seiner Beerdigung verbat er sich Zeremonie und Trauerreden. Einer der größten Wortakrobaten der letzten 150 Jahren wollte, dass niemand das Wort ergreife. Wie hätte ein potenzieller Redner auch das Sprachniveau des Verstorbenen erreichen können?

„Wir Literaturmenschen und leidenschaftliche Beobachter, die wir eine halb perverse Menschengattung sind, können es nicht lassen, im Leben und an den Ereignissen vor allem die künstlerische Seite abzuschätzen.“ In dieser Reihenfolge: „Beobachten, Empfinden, Genießen, Abschätzen, Einschätzen, Beschreiben, Beurteilen!

Alfred Kerr gilt heute als der größte und wirkungsmächtigster Kritiker des 20. Jahrhunderts, sein Steckenpferd war das Theater:

Ein Verriss aus seiner Hand konnte das Ende für Literaten, Schauspieler, Intendanten und Regisseure bedeuten. Lobte er hingegen, war ein Karrieresprung gewiss. Und wie das Eingangszitat zeigt, verstand sich Alfred Kerr nicht als dienender Helfer der Kunst. Er sah sich im eigenen Schreiben als origineller Künstler.

Mittel seiner Schreibkunst waren Ironie, Kürze, Schärfe – nur keine simple Informationsvermittlung. Heinrich Heine war sein Vorbild. Immer bemüht, beim Leser in deren „Gehirne einen Blitzschlag zu erzeugen“.

Selbst die größten Geister seiner Zeit waren vor seiner spitzen Schreibfeder nicht sicher. Über Thomas Mann schrieb er: „Der Autor der Buddenbrooks ist kein Blitzdichter, sondern ein Sitzdichter. Seine Begabung wohnt im Sitzfleisch.“ Ironisch ersetzte Kerr den Titel Buddenbrook durch Bodenbruch.

Alfred Kerr war als Deutscher wie als Jude seiner selbst sicher und gewissenhaft bewusst. In die innere und äußere Unsicherheit zwang ihn die Naziherrschaft. Tochter Judith beschrieb später, wie die Familie diese Flucht aus der kindlichen Perspektive erlebte, „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“.

In seinen letzten Lebensjahren nahm sich Alfred Kerr (1867-1948) vermehrt in einsamer Introspektive wahr.

Im Zeitenstrom tanzt ein Atom. Hat manche Lust empfunden in 93 Traumsekunden. Bevor es in das All versank, winkst du ihm zu…. Hab dank. Hab Dank.

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Botenmeister geht in Betriebspause.

Wer in der PP (Publisher-Pause) bis einschließlich dem 10. Oktober die BB (Botenmeister-Beiträge) vermisst, hier ein gehöriger Tipp für das 5 geteilte und 5 halbwöchige Leer-Intermezzo:

Weißes Papier von „Element Of Crime“ ist ein großartiges Stück Musik.

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Paul Auster (siehe Botenmeistereintrag vom letzten Freitag) ist auch als Filmemacher bekannt. Nach Fertigstellung des Spielfilms „Smoke“ aus dem Jahr 1995, war noch weiteres Drehmaterial vorhanden. So folgte unmittelbar, plus aus Improvisation entstandenen Neuaufnahmen, „Blue in The Face“. Madonna, Michael J. Fox, Jim Jarmusch, Lou Reed waren u.a. die Mitwirkenden.

Eigenkommentare zu drei Textstellen vom 15.September:

1. Ich muss in einer Konstellation am Nachthimmel, beispielsweise Venus in Konjunktion zu Mars, keinen tiefen Lebenssinn erkennen, ihr lieben Sterndeuter und Freunde von Horoskopen und Getreue der Astrologie Gemeinde. Pure großartige Ästhetik ohne Sinnzweck für des Menschen Lebensdasein, das ist der erhabene Sternenhimmel. Alles andere ist persönlich motivierte Angabe und Wichtigtuerei.

Horoskope sind unterhaltsam. Und gegen gläubige Astrologen ist nichts einzuwenden – leben und leben lassen. Dennoch ergibt sich hier ein Bezug zu den sogenannten 3 Kränkungen der Menschheit: Nikolaus Kopernikus war es, der ein ganzes Weltbild zum Einsturz brachte. Nicht die Erde, Heimstätte der Menschheit, steht im System der Planeten in zentraler Position, es ist die Sonne. Und die Erde ist nur eines von mehreren Randobjekten in diesem System.

Charles Darwin kränkte die Menschheit, in dem er herausfand, dass der Mensch nur eine Erweiterung der Tierwelt ist und mit der zoologischen Lebenswelt einen gemeinsamen Stammbaum teilt, letztendlich nur ein verwandtschaftsverbundener Teil jeglichen Lebens ist, selbst eines Einzellers oder einer Banane.

Schließlich Sigmund Freund mit seiner Psychoanalyse, der Klassifizierung menschlicher Psyche in Ich, ÜberIch und Es: Der Mensch ist nachweislich noch nicht einmal Herr (oder Dame) seiner (ihrer) selbst im eigenen Haus.

Heliozentrismus, Evolution und die Psychoanalyse als Feindbilder menschlicher Allmachtsphantasien!

2. Für einige immer in der ersten Reihe stehende und trotzdem kaum wartungsfähige Leute könnte die Lebensunruhe mit Geduld und Spucke wenigstens in einer Reflux haltigen Reduktion gelindert werden.

„Die Stimme ist gar nicht so unsympathisch wie man denken sollte. Sie riecht nur etwas nach Hosenboden, nach Mann. Unappetitlich, aber sonst geht's. Manchmal überbrüllt er sich, dann kotzt er. Aber sonst: Nichts. Keine Spannung. Keine Höhepunkte. Kein Humor. Keine Wärme. Kein Feuer. Er sagt doch nichts als die dümmsten Banalitäten.“     Kurt Tucholsky zu den Reden Adolf Hitlers

3. In allen Lebensphasen, über den eigenen Horizont hinaus mit Würde weitblickend in die Welt den Ausblick wagen!

In der arte Mediathek kann man noch bis in den Oktober hinein die dänische TV-Serie Borgen unterhaltsam und mit Spannung bestaunen. Dort ist folgendes Zitat zu hören:

„Wer im Leben mutig gewesen ist, hat keinen Zweifel gelebt zu haben, bevor er stirbt“.

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