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In den Romanen des amerikanischen Autors Paul Auster spielen kaum zu glaubende Zufallserlebnisse eine wichtige Rolle. Diese sind von ihm so beschrieben, dass der Leser mitunter zweifelt, ob die Erzählungen noch ins Realitätsschema passen oder ob bereits Grenzen ins Surreale vom Autor überschritten werden.

In dem Frühwerk „Das rote Notizbuch“ hat Auster ein paar eigene und ihm von anderen Menschen zugetragene Erlebnisse dieser Art in einer Sammlung zusammengeführt. Solche Zufallsereignisse finden in meinem Leben selten statt. In der letzten Woche allerdings geschehen als Folgeerscheinung des alljährigen Stadtmarathons.

Viele habe ich im Laufe der Jahre an der Strecke als Zuschauer miterlebt. Stets um 9:00 in der Früh startend, haben sich die Zieleinläufe der besten Läufer immer um ca. 11:10 ereignet. So auch in diesem Jahr, die Siegerzeit war diesmal 2:09:07, der Einlauf des Besten um 11:09 Uhr.

Tage später bin ich meine gewohnte Rennradrunde gefahren, 50 km, im durchschnittlich sportlichen Tempo. Professionale Läufer - auch in meiner Stadt kommen diese aus Schwarzafrika - absolvieren diese Distanzen ohne Radunterstützung mit vergleichbaren Geschwindigkeiten.

Während meiner Fahrt kam mir das zurückliegende Laufereignis in den Sinn. Nach gut 10 km dann die Einbildung, so jetzt befindest du dich auf der Marathonstrecke, nicht dieselbe Strecke, aber den Zeitläufen entsprechend. Vor neun Uhr morgens gestartet, müsste ich so kurz nach 11:00 wieder zu Hause sein. Zwangsläufig an die fast identischen Geschwindigkeiten denkend, steigerte sich der Respekt vor den MarathonläuferInnen mit jedem weiteren Kilometer.

Je näher dem Rundkursende, desto sicherer war ich, auf den allerletzten Kilometern mich dann parallel mit den Führungsläufern fortzubewegen - mit nachlassender Muskel-, aber mit zunehmender Einbildungskraft. Um 11:07, vielleicht auch erst um 11:11 herum würde ich wieder vor meiner Haustür angekommen, meiner „Ziellinie“.

Kurz vor Schluss fahre ich durch eine mehr oder weniger verkehrsberuhigte Gegend. In all den Jahren bin ich dort schon einigen Joggern entgegenkommend oder überholend begegnet. Doch das kam eher selten vor. Ich hatte vielleicht noch drei Kilometer zu fahren, als auf freier Strecke und in Sichtweite ein einzelner joggender Mensch zu erkennen war.

Je näher ich kam, so deutlicher wurde die Läufersilhouette. Ich konnte schließlich erkennen, es war eine Frau und die dunklen Anteile entpuppten sich bei näherer Betrachtung nicht als Bekleidungsfarbe. Nein, es war der schwarze Hautton, den ich jetzt sah. Dass an diesem Tag im Radio auch noch ein „Zeitzeichen“ über Leni Riefenstahl ausgestrahlt wurde, die im hohen Alter einen Bildband über das schwarzafrikanische Volk der Nuba veröffentlichte – geschenkt.

Man möchte solchen Zufällen gerne einen Sinn geben. Begriffe wie Vorsehung, Fügung, Bestimmung, Schicksal seien genannt. Ich neige jedoch zu der, in dieser Situation für mich passenden und geistreichen Äußerung in Anlehnung eines Gedichtes von Kurt Schwitters: Der einzige Zufall, der geschieht, passiert immer nur dann, wenn eine Tür zufällt.

Den Zufällen einen Sinn geben, Erklärungen zu bekommen, davon verspricht sich jedes schlichte Gemüt einen Zusatznutzen an Erkenntnis: Warum(!) ich jetzt etwas tun sollte. Eine Erklärung, warum(!) ich gerade traurig oder sicher besser, glücklich bin, wie(!) ich von jetzt an glücklich werden kann – solche Dinge halt.

Nur, warum(!) in Zufällen nicht(!) einfach die Schönheit des Lebens, die Schönheit der Natur sehen? Warum(!) mich eine Musik oder ein Gemälde berührt, kann ich auch nicht(!) bis ins Letzte erklären. Ich muss in einer Konstellation am Nachthimmel, beispielsweise Venus in Konjunktion zu Mars, keinen tiefen Lebenssinn erkennen, ihr lieben Sterndeuter und Freunde von Horoskopen und Getreue der Astrologie Gemeinde. Pure großartige Ästhetik ohne Sinnzweck für des Menschen Lebensdasein, das ist der erhabene Sternenhimmel. Alles andere ist persönlich motivierte Angabe und Wichtigtuerei.

Wenn man eine Sechs würfelt, mag das Zufall sein, Fortunas Glück im Lebensspiel. Mehrmals gewürfelt, kommt die Sechs ebenfalls aufs Parkett des Lebens gerollt. Die Charakterstärke Geduld spielt im Leben immer eine zentrale Rolle und kann das Leben leichter machen. Für einige immer in der ersten Reihe stehende und trotzdem kaum wartungsfähige Leute könnte die Lebensunruhe mit Geduld und Spucke wenigstens in einer Reflux haltigen Reduktion gelindert werden.

„Das rote Notizbuch“ zeigt mir, Zufallsereignisse sind gar nicht so selten. Und das Leben ist schön! Eben nicht fürchterlich, wie einseitig miesepetrig und damit schlicht schlecht emotional aufgestellte Leute glauben möchten. Zufriedene Ausstrahlung, eine Ausstrahlung wie die Ausstrahlung der Gestirne über uns, dafür genügt allein, die Blickrichtung mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen über den eigenen Ego Tunnelrand hinweg zu heben, ob mit durchgedrücktem Rückgrat im jugendlichen Alter oder mit schräg gebeugten Schultern auf Kante im Herbst des Lebens. In allen Lebensphasen, über den eigenen Horizont hinaus mit Würde weitblickend in die Welt den Ausblick wagen! Schlicht gesagt: Einfach mal den eigenen Bauchnabel aus dem Augenaufschlag nehmen und aufhören zu jammern. Die staunenswerten Zu- und Vorfälle ergeben sich dann von ganz allein.

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Die Bedeutung der Wissenschaft wurde in der islamischen Welt bereits wesentlich früher als in Europa gesehen. Arabische Kalifen in Bagdad ließen ab dem 8. Jahrhundert ins Arabische übersetzen, was entdeckt und gefunden wurde: indische Schriften, persische Bücher, vor allem aber die Literatur der Griechen.

Einer der wirkungsmächtigsten Intellektuellen der damaligen Zeit war der Universalgelehrte al-Bīrūnī (973-1048). Eines seiner Themen: der Wert der Wissenschaft zeige sich in den zwei Kräften, die im Widerstreit lägen, Religion und Ratio, Glaube und Vernunft. Wie mit diesem Dualismus umgehen?

Ein nicht verlässlich ihm zugeschriebenes Zitat lautet denn auch: die Bewohner der Erde sind in zwei Arten geteilt, die einen haben ein Hirn aber keine Religion, die anderen haben eine Religion aber kein Hirn.

Glaube und Vernunft sah al-Bīrūnī jedoch gerade nicht im Widerstreit stehend. Nicht als unüberbrückbarer Gegensatz, sondern als notwendige Ergänzung zweier konträrer Perspektiven interpretierte er sie. So sah er sich selbst zugleich als gläubiger Muslim und als forschender Gelehrter.

Wissensarbeiter sollten sich ausschließlich in den Sphären der Wissenschaft bewegen und nur wissenschaftliche Methoden benutzen. Vor allem dürften diese nicht einfach an Dingen und Phänomenen glauben. Man müsse stets skeptisch vorgehen und den Zweifel pflegen. Im Glauben dagegen hätten Skepsis und Zweifel nichts verloren.

Obiges Zitat entsprechend, nichts verachtete al-Bīrūnī mehr als Dummheit und Dilettantismus und jene, die immer nur nach dem praktischen Nutzen der Wissenschaft fragen würden:

„Sie wissen nicht, worin der Vorzug des Menschen vor allen anderen Lebewesen besteht. Und dass dieser Vorzug gerade das Wissen schlechthin ist. Und dass der Mensch, wenn er es aufgibt, zum Verlierer wird. Sie wissen nicht, dass die Wissenschaft an sich etwas Erstrebenswertes ist und vor allem anderen wahrhaft Glück bringend.“

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Dass ein einzelnes Buch einen ganzen Zeitabschnitt begründen kann, ist kaum zu glauben. Zumal es sich um einen Text handelt, welcher jahrhundertelang als verschollen und verloren galt. Als dieser dann auftauchte, war er lange nur in wenigen Abschriften verfügbar. Dennoch half dieses Buch – Über die Natur der Dinge von Lukrez – eine neue historische Epoche zu begründen, die europäische Renaissance um das 15. Jahrhundert herum. Spätere Geistesgrößen erkannten ebenfalls die immense Bedeutung von Über die Natur der Dinge. Unter ihnen Galileo Galilei, William Shakespeare, Johann Wolfgang Goethe, Immanuel Kant, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Albert Einstein, Albert Camus, nur um einige zu nennen.

Der lebende Historiker Stephen Greenblatt widmet Lukrez‘ Text ein ganzes Sachbuch: Die Wende - Wie die Renaissance begann.  Die deutsche Prosaübersetzung von Über die Natur der Dinge zitierend - das Original hatte Lukrez in Versform verfasst -, aus dem Vorwort (auch Stephen Greenblatt):

 

„Mit seiner Kosmologie hat Lukrez nur angerissen, was aus dieser Theorie alles folgt. Das Universum, so denkt er weiter, wurde nicht um der Menschen willen geschaffen, und auch das Schicksal der menschlichen Gattung hat keine einzigartige Bedeutung. Wir sind nicht anders entstanden als alles andere in dieser Welt auch: als Resultat einer langen Folge zufälliger Experimente.

Die Lebewesen, die in diesen Experimenten entstanden sind und die sich ihrer Umwelt anpassen können, in der Lage sind, sich das notwendige Futter zu suchen und sich zu reproduzieren, werden für eine gewisse Zeit existieren, jedes nach seiner Art, bis nämlich gewandelte Umweltbedingungen oder eigenes Ungeschick und Dummheit zu ihrem Verschwinden führen. Es waren andere Arten auf der Welt, bevor wir kamen, und es werden, so unsere Welt bestehen bleibt, andere entstehen, nachdem wir längst vergangen sind.

Unsere besondere Art zu leben - unsere Fähigkeit zu sprechen, die für uns charakteristischen Strukturen von Familie und Gemeinschaft, unsere Technik - sind entstanden im Zug einer langen, langsamen Entwicklung, haben sich durch Anpassung und Erfindung, aus primitiveren Verhältnissen herausentwickelt. Doch ist diese Entwicklung kein eindeutiges Zeichen von Fortschritt: im Gegenteil. Vieles spricht dafür, dass die menschliche Gattung gefährlich selbstdestruktiv ist, vor allem in unserer Militärtechnik und in unserem aggressiven, verschwenderischen Umgang mit unserer Umwelt.

Unsere selbstdestruktiven Züge äußern sich auch, wie Lukrez dachte, in unserer Neigung, uns an Fantasien zu klammern, wie sie die Religion bieten. Erschreckt durch Donner oder Erdbeben oder Krankheiten stellen die Menschen sich gemeinhin vor, bei solchem Unheil seien Götter am Werk. Dabei ließen sich für alle diese Phänomene natürliche Ursachen ausmachen, selbst wenn wir diese, all unserem Wissen zum Trotz, bis heute nicht völlig begreifen.

Priester locken Gläubige mit Träumen ewiger Glückseligkeit im Jenseits, dem Lohn für Frömmigkeit, schrecken sie zugleich mit Visionen ewiger Strafen. Doch alle diese Bilder sind ein Gewebe von Illusionen. Denn die Seele ist, wie der Leib auch, ein materielles Gebilde, das sich mit dem Tod auflöst: Was also soll uns ein Leben nach dem Tod? Oberflächlich betrachtet ist religiöser Glaube eine Form von Hoffnung, seine untergründige psychologische Struktur aber ist ein Gebilde aus Drohung und Angst, und seine charakteristischen heiligen Rituale sind zutiefst grausam. Darum so Lukrez ist es allemal besser, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen – alles, was wir haben, ist dieses Leben im Hier und Jetzt. Besser auch, die Freuden dieses Lebens anzunehmen, entschlossen auf das Wirkliche zu blicken, auf seine Endlichkeit.“

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Wolfgang Herrndorf   12.Juni 1965 bis 26. August 2013

Dorotheenstädtischer Friedhof  Berlin   Abt. 7-2-7

 

„Ich war nie in Amerika.

Ich stand auf keiner Bergspitze.

Ich hatte nie einen Beruf.

Ich hatte nie ein Auto.

Ich bin nie fremdgegangen.

Fünf von sieben Frauen, in die ich in meinem Leben verliebt war, haben es nicht erfahren.

Ich war fast immer allein.

Die letzten 3 Jahre waren die besten.“

 

Sand      Arbeit und Struktur      Tschick     Bilder deiner großen Liebe

 

Jemand, der von der sichtbaren Welt eher wenig gesehen hatte.

Jemand, der fern von Konventionen lebte, prekär oder freiwillig.

Jemand, der liebte, in seiner Liebe oft unerkannt blieb, die Zwiesprache nicht fand und unentdeckt blieb.

Jemand: Einsamkeit in Fülle.

Jemand, der schließlich erfolgreich war, Glück spürte, sterben musste.

Nicht auf den Tod wartend, diesen am Ende selbstbestimmt zu sich holte.

Alles und noch weniger, nur kein Jedermann.

 

 

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Sehr schöne und subtile Schlussszene in dem Film Shakespeare in Love: Shakespeare fragt die Königin, was sie als nächstes Theaterstück sich wünsche. Ihre Antwort: „Was ihr wollt“.

In der letzten Woche stand hier ein Beitrag über historischen Schein. Ein Nachtrag:

William Shakespeare war ein genialer Schriftsteller, aber auch ein von der Obrigkeit geschätzter PR-Autor in den Diensten der Tudor-Königin Elisabeth I. Die Tudors waren aus den Rosenkriegen als Sieger hervorgegangen. Elisabeths Großvater Heinrich VII. besiegte auf dem Schlachtfeld seinen Vorgänger Richard III, der bei diesen Kämpfen ums Leben kam. Die Tudor Dynastie stand von Beginn an unter dem Rechtfertigungszwang ihrer Herrschaftsausübung, denn andere englische Adelige hatten berechtigtere Ansprüche auf den englischen Thron und meldeten diese auch an. Elisabeths Vater Heinrich VIII. hatte zudem das Problem, einen legitimen, damals notwendig männlichen Thronfolger, zu zeugen bzw. nachhaltig zu etablieren.

In Kürze beginnt die neue Theatersaison: Auf den Bühnen wird wieder Shakespeares Dramenstück Richard III. zu sehen sein. Die Theaterinszenierung ist ein Klassiker und gilt als Prototyp skrupelloser und brutaler Gewaltherrschaft. Selbst Kindsmord ist kein Tabu.

Im Jahr 2012 fand man die sterblichen Überreste des historischen Richard III. bei Bauarbeiten unter einem Parkplatz in Leicester – eine Sensation. So ist er mit Nachdruck in den Fokus neugieriger Fachhistoriker geraten.

König Richard III. war mitnichten der von Shakespeare beschriebene Prototyp eines Tyrannen. Bei der damaligen Bevölkerung eher beliebt als gefürchtet, friedensbewegt und in Anbetracht seiner Zeit in Maßen gewalttätig. Mit dem von Shakespeare lediglich zugeschriebenen Buckel, geriet er wegen des Dichters spitzer Schreibfeder in das denkbar schlechteste Bühnenlicht und anschließend in den Dunkelschatten der Nachwelt.

„All the world’s a stage, and all the men and women merely players.” As you like it, 1599

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Letzte Woche fand die erste Debatte der republikanischen Präsidentschaftskandidaten im amerikanischen Fernsehen statt. Favorit Donald Trump blieb der Veranstaltung fern. Analysten haben darauf hingewiesen, dass es bei den acht Außenseiter überhaupt nicht auf die Sache ankäme. Nun denn... Einzigallein der Gesichtspunkt Aufmerksamkeit ist inzwischen wichtig, inhaltsarm und allein der Unterhaltung dienend.

Denkbar ist, dass der nächste US-Präsident sein Amt aus einer Gefängniszelle mit Sozial Media Anschluss ausüben wird. Eine absurdere Show ist kaum vorstellbar, würde jedoch perfekt zur Persönlichkeit des Donald Trumps passen. Stellt sich die Frage, was eigentlich Spin Doctors machen, Dienstleister, die eine auf die Person und deren Ambitionen bezogene Politberatung verrichten und auf die heutzutage kein Politiker mehr verzichten will und kann.

Zwischen Donald Trump und Vladimir Putin gibt es viele Parallelen. Um an der Macht zu bleiben, wurde 2008 in einem Rollentausch Dmitri Medwedew russischer Staatspräsident und der Vorgänger Wladimir Putin „unter ihm“ Ministerpräsident. 2012 ein Rollback, erneuter Tausch der zwei höchsten russischen Ämter. So konnte Putins Präsidentschaft mit einem Trickzack und im Zickzackkurs bis in die Gegenwart hinein fortgeführt werden.

Zurück zum TV-Ereignis der Vorwoche. Die volle Aufmerksamkeit hätte ein Teilnehmer erhalten, hätte er den abwesenden Donald Trump als seinen Vizepräsidentschaftskandidaten vorgeschlagen/ angekündigt.

Kopfkino: Donald, der Promi-Knacki und mafiöse Strippenzieher. Als Widerschein eine Polit-Marionette, welche die Form wahrend, im Weißen Haus legal des Patenonkel Don Anweisungen an die Gitterstäbe bzw. gegen die Wand fährt und bei Widersetzung unter Lebensgefahr, aber stets ohne Erfolg auszuführen versucht. Verrückt? Nicht, wenn man die amerikanische US-Politik verfolgt. Es ist und bleibt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

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Das Trojanische Pferd ist in der griechischen Mythologie ein überdimensioniertes hölzernes Pferd vor der belagerten Stadt Troja, in dessen Innern griechische Soldaten versteckt sind.

Fast jeder kennt diese Geschichte aus Schulzeiten und das Trojanisches Pferd ist zu einem Urbild geworden. Symbolisiert dieses doch höchste List, einen historisch grandiosen Akt militärischer Fähigkeiten. Eine beispielslose Kriegskunst, die durch und durch positive Assoziationen hervorruft.

Beim Schauen einer Geschichts-Doku wurde mir erneut die historische Binsenweisheit bewusst: Geschichte schreiben immer die Sieger. Tradierte Geschichte hat eine eigene Wahrheit, mitunter kehrt sie das tatsächliche Geschehen ins Gegenteil. Der Sieger erscheint im günstigen Licht. Mehr Schein als Sein.

Kontrast und Antithese: Das Trojanische Pferd steht für das gewaltigste Kriegsverbrechen der antiken Welt.

Troja war eine reiche Küstenstadt, gelegen am Mittelmeer. Sie kontrollierte die Dardanellen Meerenge, was ihren Reichtum erklärte. Die griechische Streitmacht, die andere Kriegspartei, war ein gefürchtete Gegner zur See, der diese Stadt jahrelang, aber ohne Erfolg belagerte. Das Geschehen entwickelte sich zu einem Zermürbungskrieg.

Schon in der Antike gab es Regeln und Übereinkommen wie kriegerische Kampfoperationen vonstatten gehen sollten, und zwar zum Vorteil beider Kriegsparteien. Es war nicht nur eine Frage von Ehre gewesen, sondern es motivierte Eigeninteresse auf beiden Seiten, sich im Kriegsfall auf fundamentale Regeln verbindlich zu einigen.

Die griechischen Kriegsschiffe waren am Bug mit überdimensionierten Pferdeköpfen ausgestattet. Sie sollten einerseits Angst und Schrecken verbreiten, andererseits sorgte diese Konstruktion dafür, dass die Schiffe als Rammböcke verwendet werden konnten, um nicht nur feindliche Schiffe, sondern zudem auch befestigte Hafenwehre zu zerstören.

Am Ende, nach jahrelangen Kämpfen, kam es zu einer Übereinkunft, es sollte ein in der Antike übliches, die Bereitschaft zur Kriegseinstellung kundtuendes Ritual bei Pattsituationen werden: Die Belagerungspartei überlässt beim Truppenabzug vom Kriegsschauplatz dem Gegner ein prächtiges Geschenk zum Zeichen der Einstellung jeder weiteren Kriegshandlung. Was konnte diese Bereitschaft besser zum Ausdruck bringen als das am meisten gefürchtete Symbol, eine Friedensgabe in der gefürchteten Form eines Pferdes. Möglich auch, Geschichten werden im Laufe der Zeit ja oft ausgeschmückt, dass eines der gefürchteten Kriegsschiffe vor den Befestigungsanlagen des Stadthafens nach vorgetäuschtem Abzug zurückgelassen wurde, augenscheinlich menschenleer und verwaist, in Wirklichkeit jedoch mit Elitekriegern unter Deck heimlich bestückt. Diese sollten nach Einlass hinter den Mauern und nach kurzem, heftigem Kampf die Wehr Tore von innen öffnen. Das Ganze selbstverständlich in völliger Missachtung der Vereinbarung.

Die Griechen wussten selbstverständlich um den ungeheuren Tabubruch. Ihr Tross, keineswegs auf dem Rückmarsch, machte Troja dem Erdboden gleich. Niemals sollte das Areal in zukünftigen Zeiten erneut besiedelt werden können. So geschah es denn auch. Und kein überlebender Zeuge auf Verliererseite sollte die Möglichkeit erhalten, das wahre Geschehen der Nachwelt zu überliefern.

Es ist bis heute Aufgabe von Literatur, auf subtile Weise auf solche Geschichtsverfälschungen hinzuweisen. Homer wurde der berühmte griechische Geschichtenschreiber, ein späterer Nachkomme auf Seiten der Sieger, mit dem Willen, aus welcher Motivation heraus auch immer, aber auch wenig überraschend, Halbwahrheiten in seinen Schriften einzubauen - zuvor war das Geschehen mündlich überliefert worden. Er beschrieb in Fortsetzung der „Heldentaten“ rund um Troja dann keine glorreiche Heimfahrt, sondern die „Irrfahrten des Odysseus“, diese, ja seine gesamte Erzählstruktur, nun mit versteckten Hinweisen versehen. Die unter keinen göttergleichen Sternen verlaufende Rückkehr, Sternenkonstellationen dien(t)en der Navigationshilfe auf hoher See, verlief in Homers Epos abenteuerlich und desaströs.

Der heldenhafte Odysseus, in Wahrheit mehr Antiheld, war durch die vorhergehende und in der Tat ein lupenreiner Kriegsverbrecher gewesen, Prärepräsentant der späteren, der ersten lupenreinen, der griechischen Demokratie.

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Und schon wieder den Satz nicht zu Ende gebracht. Es gibt kaum Verletzenderes, zu Fall Gebrachtes beim Sprechen, als wenn einem jemand dauernd, manchmal jahrelang und auch ein Leben lang das Wort mit Messerschärfe abschneidet. Ein Gespräch auf diese Weise zum Monolog wird. Willkommen Wortschatzräuber und Vernichter in meinem Wörterbuch! Schlimmer noch, wenn der Gegenüber zu einem das Gegenüber wird, von einer Person zu einer Sache, zum Ding. Sozusagen zum emotionalen Mülleimer des anderen entstellt wird. Aber das ist schon Hardcore Unterbrechen. Zurück zur Lightversion.

Jeder Mensch möchte schließlich gehört werden und sich gehört fühlen. Es schmerzt, wenn einem die Gelegenheit dazu genommen wird. Unterbrechen hat eine Regel: Macht. Macht über Menschen, Macht über die Gesprächsthemen. Menschen ordnen sich höher über andere ein, wenn sie sich in Gesprächen besonders hervortun. Symphytisch ist das nicht. Die feindliche Übernahme fremder Sätze hat mit bestehenden oder auch nur mit vermeintlichen Rangunterschieden zu tun.

Je mehr die Macht eine Rolle spielt, desto mehr und länger wird auch die Solo-Redezeit. Das hat Einfluss aufs Dominanzgehabe, Schwanzwedeln und Anschwillen des Kammes, Anschwillen der Brusthaare inbegriffen. Die Dominanz wird verstärkt durch ständiges, rituelles Wiederholen des Gesagten. Durch Unterbrechen tut sich ein doppeltes Problem auf: Die Unterbrochenen fühlen sich nicht wertgeschätzt und meinen, es sei nicht wichtig, was sie auch mal im untersagten Wechsel zu sagen hätten.

Wer andere oft beim Reden stört, sollte lernen, wirklich zuzuhören. Leicht gesagt und wenig garantiert, dass diese Empfehlung beim Anderen Echos hervorruft. Selbst In netter Bierrunde aussichtslos, wenn „Hopfen und Malz“ verloren ist!

Sicher, Menschen haben, gelinde gesagt, unterschiedliche Kommunikationsstile. Auch die der Solistenverkünder. Sie werden, wie wir alle, schon im Elternhaus geprägt und hängen, die Stile, auch von der Persönlichkeit ab. Manche Unterbrecher realisieren gar nicht, dass sie ein Gespräch stören. Was das Gegenüber mit Fremdscham und als Unverschämtheit empfindet, ist für ihn eine lebendige, artgerechte Homo sapiens-Unterhaltung.

Interessant auch die kulturellen Unterschiede. Studien haben gezeigt: Dänen lassen bei einem Sprecherwechsel fast eine halbe Sekunde (also 460 Millisekunden) vergehen, die so lebhaft wirkenden Italiener 310 Millisekunden, Niederländer hingegen nur 109 und Japaner sogar nur unglaubliche 7 Millisekunden. Nicht bestätigte Studienergebnisse legen auch Korrelationen mit Magen-Mastdarm-Digestionsstörungen nahe, die abundant frequent verlaufenden Losungen. Die, trivial und fern medizinischer Fachkreise stadtbekannt auf Flur und Wiese sich als „Häufchen Komplikation“ einem breiteren Bekanntheitsgrad mit Memory-Effekt erfreuen.

Wie aber kann man sich gegen penetrante Unterbrecher behaupten? Schlimm ist das mastdarmgleiche, machtgesteuerte Unterbrechen, weil es die eigene Position schwächt, Ohnmacht erzeugend. Deshalb sollte man immer reagieren. Eine der wichtigsten Strategien: Zumindest nicht das Weiterreden befördern. Nicht nicken, ist so eine Maßnahme. In der Regel gilt hier leider: Viele Möglichkeiten, was man nicht tun sollte, wenig Möglichkeiten, was man aktiv tun könnte. Das eine wäre Weglaufen, schnell, geschwind und auf heißen Sohlen. Folgeschaden: Das Gespräch ist abrupt beendet. Fazit: Wer nicht unterbrechen will - Zirkelschluss: Die wollen doch unterbrechen! - muss also zunächst lernen, mit Bereitschaft zur Ehrlichkeit, mit Talent zur Wirklichkeitszeugung und mit auf Empfang gerichtete Antennen zuzuhören, was allerdings Mitmenschinteresse, somit Sozialkompetenz voraussetzt. Nicht jedem gegeben. Selbstreflexion - nirgendwo ist das Ich-Sagen angebrachter - hilft da. Wer zum Punkt kommen will, muss auch mal ein Häufchen machen, äh einen .

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Der Unterschied zwischen der Sciencefiction und den Zukunftsvisionen besteht in der Machbarkeit bzw. der Realisierung von Ereignissen, die in der Zukunft wahrscheinlich geschehen werden oder - eher unwahrscheinlich, jedoch denkbar - geschehen könnten. Wobei das „Könnten“ im Kontext der Sciencefiction, das „Werden“ eher auf Seiten der Zukunftsvisionen verortet ist.

Der Informatiker Jürgen Schmidhuber wird als „Vater der modernen KI“ bezeichnet. Der 60-jährige Deutsche arbeitet seit 1995 am Istituto Dalle Molle di Studi sull’Intelligenza Artificiale in Lugano und seit zwei Jahren auch am internationalen Wissenschaftszentrum KAUST in Saudi-Arabien. Sein akademischer Höhenpflug begann an der TU München. Inzwischen genießt Jürgen Schmidhuber in Wissenschaftskreisen Kultstatus. Das liegt nicht zuletzt an der Art, wie er die Auswirkungen der Forschungsergebnisse seines Fachs der Öffentlichkeit erklärt. Erneut geschehen mittels eines SZ-Interviews vom 5. August 2023:

 

„Der Moment der Singularität ist dann gegeben, wenn sich lernfähige Maschinen so schnell selbst verbessern, dass Menschen die Entwicklung nicht mehr nachvollziehen können. Ich nenne das gerne den Omega-Punkt, frei nach Teilhard de Chardin. Viele, die von der Singularität sprechen, beziehen sich auf Gespräche, die in den Fünfzigern zwischen den Wissenschaftlern Stanislaw Lem und John von Neumann stattfanden. Sie äußerten die Vermutung, dass die zeitlichen Abstände zwischen technischen Durchbrüchen exponentiell schrumpfen. Dann muss das Ganze irgendwann konvergieren. Der Science-Fiction-Autor und Mathematiker Vernor Vinge hat das Konzept in den Achtzigern populär gemacht. 2014 entdeckte ich dann ein simples Beschleunigungsgesetz, das nicht nur ein paar Jahrzehnte, sondern bis zum Urknall zurückreicht, also 13,8 Milliarden Jahre.

Es stellt sich heraus, dass die aus menschlicher Sicht wichtigsten Ereignisse seit dem Beginn des Universums ziemlich genau auf einer Zeitachse mit exponentieller Beschleunigung angeordnet sind, mit Konvergenzpunkt im Jahre Omega, wahrscheinlich 2040 oder so. Wenn Sie 13,8 Milliarden durch 4 teilen, kommen wir vor 3,5 Milliarden Jahren raus. Da entstand das Leben. Ein Viertel davon sind 900 Millionen Jahre: das erste tierähnliche Leben. Wieder ein Viertel, 220 Millionen Jahre: die ersten Säugetiere. Dann die Primaten, die Hominiden, die ersten Steinwerkzeuge, das Feuer, Ackerbau und Beginn der Zivilisation, die erste Bevölkerungsexplosion in der Eisenzeit, Schusswaffen, industrielle Revolution und Start der zweiten Bevölkerungsexplosion durch Dünger und moderne Medizin. Schließlich kommen Sie mit diesem Vierteln raus beim World Wide Web. Und demnächst kommt der Omega-Punkt.

Apropos Menschenangst: Warum sollte sich eine wahrhaft superkluge KI, die ganz schnell Roboter bauen kann, die alles viel besser kann als Menschen, sich die hirnlose Mühe machen, Menschen zu versklaven? Sie könnte jedoch uns aus Versehen vernichten, so wie Menschen, die auf einer Wiese ein Haus bauen und Ameisenhügel plattmachen. Ja da haben wir einen Zielkonflikt mit den Ameisen. Aber das betrifft in dem Fall nur ein paar Tausend Ameisen und Sie sind trotzdem froh, dass draußen im Wald noch Billionen von ihnen leben, weil Sie wissen, dass der Wald ohne Ameisen nicht funktionieren würde. Es ist nicht so, dass Sie alle Ameisen ausrotten wollen, nur weil Sie klüger sind. Zielkonflikte haben die, die sich ähnlich sind. Menschen haben viele Zielkonflikte mit anderen Menschen. Und viele Lebewesen haben Zielkonflikte mit anderen Lebewesen, die sie verspeisen wollen. Zwischen Lebewesen und KIs fallen die meisten derartigen Zielkonflikte weg. KIs werden natürlich mehr und größere und bessere KIs bauen wollen, dazu braucht man Masse und Energie. Fast alles davon ist aber weit weg von unserer Biosphäre. Also werden KIs auswandern.

Zunächst auf den Merkur, der sehr sexy ist, weil er noch mehr schwere Metalle hat als die Erde, mit der Sonne als riesiger Energiequelle in nächster Nähe. Da der Merkur keine Atmosphäre hat, kann man Material viel billiger als mit Raketen durch elektromagnetische Kanonen in den Weltraum schießen, um dort alle mögliche Infrastruktur zu schaffen. Das ist aber erst der Anfang. Der Rest der Milchstraße bietet noch viel mehr bisher ungenutzte Gelegenheiten als unser winziges Sonnensystem. Das wird ein paar Hunderttausend Jahre dauern, aber dann wird fast alle KI sehr weit von der Erde weg sein.

Die meisten Menschen werden da bleiben, wo es für Menschen am schönsten ist, auf der Erde. Mit der sich ausbreitenden KI-Sphäre wird der Mensch sowieso nicht mithalten können. Sobald es Sender und Empfänger gibt, reisen KIs mit Lichtgeschwindigkeit per Funk. Menschen werden weniger bedeutend sein. Aber trotzdem interessant: Solange die Menschen in ihrer Beschränktheit nicht durch und durch verstanden sind, bleiben sie eine unglaubliche Quelle interessanter Muster, die kein rationaler Wissenschaftler zerstören will, egal ob er ein Mensch ist oder eine KI.

Irgendwann sind die Menschen die Ureinwohner einer intergalaktischen Zivilisation geworden, die sie nämlich begründet hat. Wir, die Menschen sind also Steigbügelhalter. Ich wette, auch superkluge KIs werden interessiert daran sein, unsere schöne Biosphäre zu erhalten.

Elon Musk irrt mit seinem Plan, unsere Zivilisation erst einmal zu einer interplanetarischen Zivilisation zu machen und auf dem Mars anzufangen. Er lud mich einst zu seiner Familienfeier ein, wo ich versuchte, ihm das auszureden. Der Mars ist für geeignet konstruierte Roboter viel angenehmer als für Menschen. Für uns Menschen wäre dagegen sogar die leere Wüste Gobi lebenswerter. Dort haben Gravitation und Atmosphärendruck schon mal die richtigen Werte, und es gibt Sauerstoff ohne Ende. Niemand wird dauerhaft auf den Mars wollen.

Ich wette, auch superkluge KIs werden interessiert daran sein, unsere schöne Biosphäre zu erhalten. So wie wir zum Beispiel daran interessiert sind, in Naturschutzgebieten seltene Lebensarten zu erhalten.

Fürchtet euch nicht, am Ende wird alles gut! All dies ist eigentlich nur ein kurzer Zwischenschritt in der Entwicklung des Universums. Vor 13,8 Milliarden Jahren war alles sehr einfach. Es gab keine komplexen Elemente, keine Sonnen, kleine Planeten, kein Leben, keine Zivilisation. Das entstand alles in Äonen der Evolution und ist noch lange nicht fertig. Das Universum ist noch jung. Es wird noch viele Male älter werden. Vorher haben wir immer geviertelt. Multiplizieren wir jetzt mit vier! Wenn der sichtbare Kosmos vier Mal so alt ist wie jetzt, also ungefähr 55 Milliarden Jahre alt, wird er von KI und deren Infrastruktur durchdrungen sein.

Dann ohne Menschen. Bis dahin ist die Sonne längst ausgebrannt. Die Sonne wird es so wohl nicht mehr geben, die hat ohne massive Eingriffe nur noch fünf Milliarden Jahre, also bloß noch eine Million Mal die Zeitspanne seit den alten Ägyptern. Aber es gibt ja so viele andere Sonnensysteme für KI und Roboter. Bis dahin haben wir noch ein wenig Zeit.

Doch zurück zu den konkret nächsten Schritten in der Entwicklung der KIs. KIs, die nicht nur sklavisch Menschen imitieren, sondern wie Babys und Wissenschaftler ihre eigenen Ziele verfolgen, die durch Roboter mit der Welt interagieren, sich dabei ein immer besseres Bild der Welt machen, und auch das Lernen selbst lernen, um immer allgemeinere Probleme lösen zu können.

Interessant wird es, sobald sie sich physikalisch selbst replizieren können. Wenn zum Beispiel auf dem Merkur ein solargetriebener 3-D-Drucker sich mit anderen zusammenschließt und sie all die Teile drucken können, aus denen sie bestehen, und auch die Teile, aus denen die Roboter bestehen, die die entsprechenden Rohstoffe einholen und die gedruckten Teile zusammenbasteln, sodass die gesamte Maschinengesellschaft sich selbst kopieren kann. Dann hat man zum ersten Mal eine neue Sorte von Leben, die nichts mit Biologie zu tun hat und sich trotzdem vervielfältigen kann. Und sich rasch verbessern kann in einer Weise, die traditionellem Leben verwehrt ist. Das wird kommen, und das Großartige daran ist, dass der gigantische Weltenraum solchen Systemen einen bisher unerschlossenen Lebensraum bietet, der unermesslich groß ist im Vergleich zur winzigen Biosphäre.

Solche selbstreplizierenden Fabriken werden auch viel von dem produzieren, was Menschen wichtig ist. Aber das geht weit über menschliche Bedürfnisse hinaus, denn nahezu alle derartigen Fabriken werden bald weit weg sein von der Erde und nichts mehr mit Menschen zu tun haben. Das Universum als Ganzes scheint diesen eingebauten Willen zu haben, immer komplexer zu werden. Wenn wir begreifen, dass das Universum nicht nur für uns gemacht wurde, sondern dass wir Teil von etwas Größerem sind, können wir schon ehrfürchtig und demütig damit leben.

Der Mensch: Es fühlt sich doch kaum einer dadurch gekränkt, dass Einstein klüger war als er, oder dass Maschinen besser Schach spielen. Die meisten Menschen kommen gut damit zurecht, dass sie nicht die Tollsten sind.“

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Das Radio ist ein täglicher Begleiter beim Aufstehen. Die Morgenandacht im Rundfunk ein nicht zu überhörender Teil davon - Kritik, des Inhalts wegen, vor allem aber wegen der klerikalen Rhetorik und der kitagerechten Inszenierung. Wünsche trotzdem dem Deutschlandfunk-Beitrag vom 14. August der evangelischen Pfarrerin Heidrun Dörken eine vermehrte mediale Reichweite.

 

„Leider kann ich das vierte Gebot nicht befolgen. Die Schriftstellerin Helga Schubert war schon über 70, als sie im Urlaub auf einer Nordseeinsel zum ersten Mal einer Seelsorgerin ihr Herz ausschüttet. Bei den übrigen neun Geboten schaffe ich es auch nicht immer. Aber beim vierten Gebot ist es am schwersten. Helga Schubert erzählt davon im Buch Vom Aufstehen, mit dem sie mit 80 Jahren den Ingeborg Bachmann Preis gewann.

Ihr ganzes erwachsenes Leben hatte Helga Schubert mit dem vierten Gebot gerungen. Ich kann das vierte Gebot nicht befolgen. Ich kann meine Mutter nicht lieben, so wie sie mich nicht lieben kann. Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben, auf dass es dir wohl gehe. Doch da schreitet die junge Pastorin ein. Irrtum! Von Liebe ist in dem Gebot nicht die Rede, sie brauchen sie nur – das stimmt - zu ehren. Das vierte Gebot lautet in der Bibel: Du sollst Vater und Mutter ehren. Ehren! Von lieben ist da nicht die Rede. Das Gebot richtet sich an erwachsene Nachkommen. Es soll nicht kleinen Kindern Gehorsam beibringen, auch wenn es viel zu oft so benutzt wurde. Und es geht hier nicht um Liebe. Vielmehr werden die erwachsenen Kinder zur Fürsorge verpflichtet.

Sie sollen ihren Eltern zur Seite stehen, wenn diese nicht mehr können. Das Gebot ist eine Art Generationenvertrag und damit auch eine soziale Errungenschaft. Besonders in Gesellschaften und Verhältnissen, in denen es keine Rente oder andere Absicherungen im Alter gab und gibt.

Die hochbetagte Mutter von Helga Schubert hatte genug Rente. Die fast Hundertjährige war in einem kirchlichen Heim gut versorgt. ihr einziges Kind Helga hatte sich gekümmert. Das seelische Verhältnis zwischen Tochter und Mutter blieb dagegen schwierig. Die Tochter fühlte sich seit ihrer Kindheit immer wieder fremd mit der Mutter und oft von ihr verletzt. Die Pastorin hörte sich alles an und sagte, sie haben doch ihren Auftrag erfüllt. Sie haben sich ganz umsonst gekümmert. Liebe ist etwas Freiwilliges, ein Geschenk.

Helga Schubert sagte dann, mir schien, als ob ich von etwas Schwerem endlich erlöst bin. Ich verstehe das so: Sie war erlöst davon, etwas von sich zu fordern, was niemand fordern kann. Zuneigung, Sympathie, Freundschaft oder Liebe kann man nicht gebieten. Sie sind Geschenke, auch wenn viele Kinder sich genau diese Geschenke sehnlichst von den Eltern wünschen und viele Eltern sie sich von den Kindern wünschen. Man kann sie nicht einfordern.

Deshalb heißt das Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren! Das Gebot fordert Lebensschutz, wie weitere Gebote auch. Sie soll man erfüllen. Alle sind davon angesprochen, egal wie zweideutig die Gefühle sind zu Familienmitgliedern. Menschen sollen Fürsorge erfahren, wenn sie für sich selbst nicht mehr sorgen können. Das vierte Gebot will, dass das Leben und Auskommen von Menschen geachtet werden. Helga Schubert war als Tochter erlöst, als sie unterscheidet: Ich soll ehren, ich muss nicht lieben.

Vielen erwachsenen Kindern geht es zum Glück anders. Sie kümmern sich um die Eltern, wenn es nötig ist und gleichzeitig können sie leicht und frei sagen: Ich liebe meine Mutter, meinen Vater und fühle mich auch von ihnen geliebt. Das ist ein großes Geschenk. Die, die es aus welchen Gründen auch immer anders erleben, will das vierte Gebot nicht bedrücken, sondern befreien. Helga Schubert findet keine Liebe zu ihrer Mutter, aber am Schluss erzählt sie von etwas, was mit Liebe verwandt ist, was man genauso wenig gebieten kann: Dankbarkeit. Sie ist am Ende dankbar für das, was gut war, trotz der schwierigen Beziehung. Kurz vor dem Tod der Mutter konnte Helga Schubert ihr sagen: Ich verdanke dir, dass ich lebe. Es ist alles gut.“

P.S.: Sollte dir Dein Weiterleben aber geneidet werden und Du aufgefordert wirst, bereits vor Deiner Zeit dem Tod in die Pyramiden der ewigen Ruhe zu folgen, wie es den Hausräten altägyptischer Pharaonen befohlen wurde, so heißt ein 11.DaCapo-Gebot: Empöre und widersetze Dich, in nomine domini!

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