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In den Romanen des amerikanischen Autors Paul Auster spielen kaum zu glaubende Zufallserlebnisse eine wichtige Rolle. Diese sind von ihm so beschrieben, dass der Leser mitunter zweifelt, ob die Erzählungen noch ins Realitätsschema passen oder ob bereits Grenzen ins Surreale vom Autor überschritten werden.

In dem Frühwerk „Das rote Notizbuch“ hat Auster ein paar eigene und ihm von anderen Menschen zugetragene Erlebnisse dieser Art in einer Sammlung zusammengeführt. Solche Zufallsereignisse finden in meinem Leben selten statt. In der letzten Woche allerdings geschehen als Folgeerscheinung des alljährigen Stadtmarathons.

Viele habe ich im Laufe der Jahre an der Strecke als Zuschauer miterlebt. Stets um 9:00 in der Früh startend, haben sich die Zieleinläufe der besten Läufer immer um ca. 11:10 ereignet. So auch in diesem Jahr, die Siegerzeit war diesmal 2:09:07, der Einlauf des Besten um 11:09 Uhr.

Tage später bin ich meine gewohnte Rennradrunde gefahren, 50 km, im durchschnittlich sportlichen Tempo. Professionale Läufer - auch in meiner Stadt kommen diese aus Schwarzafrika - absolvieren diese Distanzen ohne Radunterstützung mit vergleichbaren Geschwindigkeiten.

Während meiner Fahrt kam mir das zurückliegende Laufereignis in den Sinn. Nach gut 10 km dann die Einbildung, so jetzt befindest du dich auf der Marathonstrecke, nicht dieselbe Strecke, aber den Zeitläufen entsprechend. Vor neun Uhr morgens gestartet, müsste ich so kurz nach 11:00 wieder zu Hause sein. Zwangsläufig an die fast identischen Geschwindigkeiten denkend, steigerte sich der Respekt vor den MarathonläuferInnen mit jedem weiteren Kilometer.

Je näher dem Rundkursende, desto sicherer war ich, auf den allerletzten Kilometern mich dann parallel mit den Führungsläufern fortzubewegen - mit nachlassender Muskel-, aber mit zunehmender Einbildungskraft. Um 11:07, vielleicht auch erst um 11:11 herum würde ich wieder vor meiner Haustür angekommen, meiner „Ziellinie“.

Kurz vor Schluss fahre ich durch eine mehr oder weniger verkehrsberuhigte Gegend. In all den Jahren bin ich dort schon einigen Joggern entgegenkommend oder überholend begegnet. Doch das kam eher selten vor. Ich hatte vielleicht noch drei Kilometer zu fahren, als auf freier Strecke und in Sichtweite ein einzelner joggender Mensch zu erkennen war.

Je näher ich kam, so deutlicher wurde die Läufersilhouette. Ich konnte schließlich erkennen, es war eine Frau und die dunklen Anteile entpuppten sich bei näherer Betrachtung nicht als Bekleidungsfarbe. Nein, es war der schwarze Hautton, den ich jetzt sah. Dass an diesem Tag im Radio auch noch ein „Zeitzeichen“ über Leni Riefenstahl ausgestrahlt wurde, die im hohen Alter einen Bildband über das schwarzafrikanische Volk der Nuba veröffentlichte – geschenkt.

Man möchte solchen Zufällen gerne einen Sinn geben. Begriffe wie Vorsehung, Fügung, Bestimmung, Schicksal seien genannt. Ich neige jedoch zu der, in dieser Situation für mich passenden und geistreichen Äußerung in Anlehnung eines Gedichtes von Kurt Schwitters: Der einzige Zufall, der geschieht, passiert immer nur dann, wenn eine Tür zufällt.

Den Zufällen einen Sinn geben, Erklärungen zu bekommen, davon verspricht sich jedes schlichte Gemüt einen Zusatznutzen an Erkenntnis: Warum(!) ich jetzt etwas tun sollte. Eine Erklärung, warum(!) ich gerade traurig oder sicher besser, glücklich bin, wie(!) ich von jetzt an glücklich werden kann – solche Dinge halt.

Nur, warum(!) in Zufällen nicht(!) einfach die Schönheit des Lebens, die Schönheit der Natur sehen? Warum(!) mich eine Musik oder ein Gemälde berührt, kann ich auch nicht(!) bis ins Letzte erklären. Ich muss in einer Konstellation am Nachthimmel, beispielsweise Venus in Konjunktion zu Mars, keinen tiefen Lebenssinn erkennen, ihr lieben Sterndeuter und Freunde von Horoskopen und Getreue der Astrologie Gemeinde. Pure großartige Ästhetik ohne Sinnzweck für des Menschen Lebensdasein, das ist der erhabene Sternenhimmel. Alles andere ist persönlich motivierte Angabe und Wichtigtuerei.

Wenn man eine Sechs würfelt, mag das Zufall sein, Fortunas Glück im Lebensspiel. Mehrmals gewürfelt, kommt die Sechs ebenfalls aufs Parkett des Lebens gerollt. Die Charakterstärke Geduld spielt im Leben immer eine zentrale Rolle und kann das Leben leichter machen. Für einige immer in der ersten Reihe stehende und trotzdem kaum wartungsfähige Leute könnte die Lebensunruhe mit Geduld und Spucke wenigstens in einer Reflux haltigen Reduktion gelindert werden.

„Das rote Notizbuch“ zeigt mir, Zufallsereignisse sind gar nicht so selten. Und das Leben ist schön! Eben nicht fürchterlich, wie einseitig miesepetrig und damit schlicht schlecht emotional aufgestellte Leute glauben möchten. Zufriedene Ausstrahlung, eine Ausstrahlung wie die Ausstrahlung der Gestirne über uns, dafür genügt allein, die Blickrichtung mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen über den eigenen Ego Tunnelrand hinweg zu heben, ob mit durchgedrücktem Rückgrat im jugendlichen Alter oder mit schräg gebeugten Schultern auf Kante im Herbst des Lebens. In allen Lebensphasen, über den eigenen Horizont hinaus mit Würde weitblickend in die Welt den Ausblick wagen! Schlicht gesagt: Einfach mal den eigenen Bauchnabel aus dem Augenaufschlag nehmen und aufhören zu jammern. Die staunenswerten Zu- und Vorfälle ergeben sich dann von ganz allein.

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