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Dass ein einzelnes Buch einen ganzen Zeitabschnitt begründen kann, ist kaum zu glauben. Zumal es sich um einen Text handelt, welcher jahrhundertelang als verschollen und verloren galt. Als dieser dann auftauchte, war er lange nur in wenigen Abschriften verfügbar. Dennoch half dieses Buch – Über die Natur der Dinge von Lukrez – eine neue historische Epoche zu begründen, die europäische Renaissance um das 15. Jahrhundert herum. Spätere Geistesgrößen erkannten ebenfalls die immense Bedeutung von Über die Natur der Dinge. Unter ihnen Galileo Galilei, William Shakespeare, Johann Wolfgang Goethe, Immanuel Kant, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Albert Einstein, Albert Camus, nur um einige zu nennen.

Der lebende Historiker Stephen Greenblatt widmet Lukrez‘ Text ein ganzes Sachbuch: Die Wende - Wie die Renaissance begann.  Die deutsche Prosaübersetzung von Über die Natur der Dinge zitierend - das Original hatte Lukrez in Versform verfasst -, aus dem Vorwort (auch Stephen Greenblatt):

 

„Mit seiner Kosmologie hat Lukrez nur angerissen, was aus dieser Theorie alles folgt. Das Universum, so denkt er weiter, wurde nicht um der Menschen willen geschaffen, und auch das Schicksal der menschlichen Gattung hat keine einzigartige Bedeutung. Wir sind nicht anders entstanden als alles andere in dieser Welt auch: als Resultat einer langen Folge zufälliger Experimente.

Die Lebewesen, die in diesen Experimenten entstanden sind und die sich ihrer Umwelt anpassen können, in der Lage sind, sich das notwendige Futter zu suchen und sich zu reproduzieren, werden für eine gewisse Zeit existieren, jedes nach seiner Art, bis nämlich gewandelte Umweltbedingungen oder eigenes Ungeschick und Dummheit zu ihrem Verschwinden führen. Es waren andere Arten auf der Welt, bevor wir kamen, und es werden, so unsere Welt bestehen bleibt, andere entstehen, nachdem wir längst vergangen sind.

Unsere besondere Art zu leben - unsere Fähigkeit zu sprechen, die für uns charakteristischen Strukturen von Familie und Gemeinschaft, unsere Technik - sind entstanden im Zug einer langen, langsamen Entwicklung, haben sich durch Anpassung und Erfindung, aus primitiveren Verhältnissen herausentwickelt. Doch ist diese Entwicklung kein eindeutiges Zeichen von Fortschritt: im Gegenteil. Vieles spricht dafür, dass die menschliche Gattung gefährlich selbstdestruktiv ist, vor allem in unserer Militärtechnik und in unserem aggressiven, verschwenderischen Umgang mit unserer Umwelt.

Unsere selbstdestruktiven Züge äußern sich auch, wie Lukrez dachte, in unserer Neigung, uns an Fantasien zu klammern, wie sie die Religion bieten. Erschreckt durch Donner oder Erdbeben oder Krankheiten stellen die Menschen sich gemeinhin vor, bei solchem Unheil seien Götter am Werk. Dabei ließen sich für alle diese Phänomene natürliche Ursachen ausmachen, selbst wenn wir diese, all unserem Wissen zum Trotz, bis heute nicht völlig begreifen.

Priester locken Gläubige mit Träumen ewiger Glückseligkeit im Jenseits, dem Lohn für Frömmigkeit, schrecken sie zugleich mit Visionen ewiger Strafen. Doch alle diese Bilder sind ein Gewebe von Illusionen. Denn die Seele ist, wie der Leib auch, ein materielles Gebilde, das sich mit dem Tod auflöst: Was also soll uns ein Leben nach dem Tod? Oberflächlich betrachtet ist religiöser Glaube eine Form von Hoffnung, seine untergründige psychologische Struktur aber ist ein Gebilde aus Drohung und Angst, und seine charakteristischen heiligen Rituale sind zutiefst grausam. Darum so Lukrez ist es allemal besser, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen – alles, was wir haben, ist dieses Leben im Hier und Jetzt. Besser auch, die Freuden dieses Lebens anzunehmen, entschlossen auf das Wirkliche zu blicken, auf seine Endlichkeit.“

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