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Die Coronakrise ist vorbei. Viele Menschen werden die Maßnahmen, die ihre Lebensführung durch staatliche Eingriffe und Verbote einschränkten, in der Rückschau als überflüssig und übertrieben beurteilen, zum Extrem neigende Leute sogar verurteilen. Die aus dieser Sicht staatliche Gängelung hat sie auf alle Fälle weiter politikverdrossen werden lassen. Unterm Strich sei doch „alles gut“ gegangen, so der dazugehörige Tenor in diesem Milieu. Dabei weiß niemand, was an lebensvernichtende Mehrschäden eingetroffen wären, wenn der Staat nicht maßgeregelt hätte, Meinungen von Überlebenden. Die Coronatoten können sich nicht mehr äußern. In den sozialen Medien und in der Öffentlichkeit sind sie auf ewig stumm, weil für immer verschwunden. Wenigstens ein kleines Glück, wenn man sich ihrer erinnert.

Apropos Klima: Die Klimakrise ist nicht vorbei, wir stecken ab jetzt mittendrin. Studien haben die Folgen der Erderwärmung für Menschen und Wirtschaft weltweit untersucht. Und kommen, was die finanziellen Kosten angehen auf astronomisch große Zahlensummen.

Allein die Konsequenzen für die menschliche Gesundheit: Hitzewellen und Naturkatastrophen nehmen jetzt zu, Krankheiten breiten sich in vielen Regionen der Welt aus. Auf diese Herausforderungen zu reagieren, stellt das Gesundheitssystem weltweit vor Probleme und wird Tausende Milliarden Euro kosten.

„Das Teuerste, was wir jetzt tun können, ist, nichts zu tun“, sagt Claudia Traidl-Hoffmann, Umweltmedizinerin von der Universität Augsburg, die an eingängige Studien zum Thema beteiligt gewesen ist. „Wir müssen präventiv tätig werden, um den größten Schaden von der Weltgemeinschaft abwenden zu können.“

Der Klimawandel könnte bis 2050 global zu mehr als 14,5 Millionen zusätzlichen Toten führen. Der ökonomische Schaden summiere sich laut der Studien bis 2050 auf 11,5 Billionen Euro. Davon würden 1 Billionen Euro auf das Gesundheitswesen entfallen. Die meisten zusätzlichen Todesopfer werden laut der meisten dieser übereinstimmenden Analysen den klimabedingt häufigeren Hochwasserereignissen geschuldet sein, insgesamt 8,5 Millionen bis zum Jahr 2050. Dürreereignisse rangierten mit 3,2 Millionen zusätzlichen Todesfällen an zweiter Stelle.

Massenhaft naturkatastrophenbedingte Todesfälle sind aber nur ein Aspekt. „Die wichtigste Erkenntnis aus unseren Untersuchungen ist, dass die Klimaereignisse langfristige Krankheiten und damit verknüpft, verminderte Arbeitsfähigkeiten zur Folge haben“, Aussage einer der Analysen. Verantwortlich für diese seien unter anderem, siehe oben, Hitze und Hochwasser, aber auch Atemwegserkrankungen durch häufiger werdende Waldbrände, Ernteausfälle wegen Trockenperioden. „Das verursacht hohe Kosten für das Gesundheitssystem und Produktivitätsausfälle für die gesamte Wirtschaft.“

Dabei sind die Folgen extremer Klimaereignisse laut der Untersuchungsberichte sehr ungleich verteilt: Am teuersten wird es für Europa und Asien. Regionen wie Afrika und speziell Südasien seien besonders anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels, da sie nur über minder robuste Volkswirtschaften verfügten. Das verringere ihre Möglichkeiten, die ökologischen Herausforderungen zu bewältigen, sich auf veränderte Klimabedingungen einzustellen.

Bei der Bevölkerung in den Wohlstandsgesellschaften steht das Thema Migration ganz weit oben, was das Ranking der Herausforderungen an die Politik betrifft. Zukünftige Migrationsbewegungen werden gigantische Ausmaße erreichen, das dürfte Fakt werden. Die Klimakrise zu leugnen und Einwanderungen mit allen Mitteln verhindern zu wollen, passt nur insofern zusammen, falls beabsichtigt ist, diesen Widerspruch mit unfriedlichen, sprich kriegerischen Mittel lösen zu wollen. Noch einmal: Das Teuerste, was jetzt getan werden kann, ist, nichts zu tun.

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Der Politologe Herfried Münkler, Autor des Buches Welt in Aufruhr, sieht die bisherige Weltordnung in Auflösung: Europa müsse lernen, sich dieser Veränderung zu stellen und der neuen Realität, welche Gestalt sie auch einnehme, ins Auge schauen.

Derzeit blicken nur 13 Prozent der Bevölkerung in Deutschland optimistisch in die Zukunft. Fast 60 Prozent geben an, Nachrichten zu vermeiden. Werden der Krisen zu viele, blendet eine steigende Zahl von Menschen alles, was ihnen zu viel ist, also einfach aus. Keine guten Aussichten, denn Herausforderungen können nicht bewältigt werden, wenn in die Leere gestarrt wird. Diese Perspektive mag der Angst vor Veränderung geschuldet sein. Doch diese Sicht führt zur Passivität und führt direkt hin zu realen Bedrohungsszenarien.

Nach Münklers Diagnose lösen sich die Strukturen der aktuellen Weltordnung auf. Politiker, die glaubten, die bisherige sei zukünftig wieder herzustellen, lägen falsch. Das sagte er bei einem Vortrag in Würzburg.

Vielmehr bilde sich gerade eine neue globale Konstellation heraus, die keinen einheitlichen globalen Wertehorizont mehr habe. Dafür stand bisher die USA. Eine Sache der Vergangenheit und in der Rückschau müßig, ob dies unterstützt oder in Frage gestellt wurde. Die alte globale Ordnung habe auf wirtschaftliche statt auf militärische Macht gesetzt und bis dato versucht, internationale Konflikte in der Regel mit politischen Mitteln zu lösen.

Den USA sei dabei eine Art Wächterrolle zugekommen, mitunter mit Zwang oder Zustimmung gegenüber bzw. von anderen, aber auch mit wohlwollender Duldung von diesen im Angesicht fehlender Alternativen, die sie, die USA, aber spätestens mit dem Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan abgelegt hätten. Eine wahrscheinliche Präsidentschaft Trump 2.0 werde diese Entwicklung lediglich beschleunigen, aber ohne jegliche Kontrollmechanismen. „Ich glaube, zu unseren Lebzeiten werden wir keine Ordnung mehr finden und in keiner mehr leben, die einen solchen Aufpasser hat“, so Münkler.

Solch eine Rolle wolle nämlich niemand mehr gleich der mythischen Figur Atlas schultern. Die Macht, die das erfordere, werde zukünftig abgelöst durch Mächte, die sich in nationaler Nabelschau, in gegenseitiger Konkurrenz und Rivalität betrachten. Das zeige sich exemplarisch, einem Paradigmenwechsel gleich, im Umgang der Welt mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. „Das ist nicht eine Delle in dieser Ordnung, sondern es ist deren Ende“.

In einer neuen Weltordnung werden Münkler zufolge verschiedene Großakteure auftreten. Nicht entschieden sei, wer sich in dem Konkurrenzkampf durchsetzen werde. Europa müsse aktiv hinschauen und handeln, sich nicht passiv wegducken. Schauen, wie es sich trotz seiner verschiedenen Abhängigkeiten in dieser neuen Lage behaupten könne, um nicht seine Souveränität und Autonomie zu verlieren. Das werde mindestens anstrengend und nur mit der Veränderung gewohnter Lebensumstände zu bewältigen sein.

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Eventeindrücke vom letzten Wochenende:

Großartige Großdemonstrationen der Bürger in vielen deutschen Städten gegen das Erstarken der AFD. Unter anderem wurden Protestschilder gesichtet mit Parolen wie „Gegen Hass und Hetze der AFD!“. In Münster, 320.000 Einwohner, kamen mehr als 20.000 Menschen zum Protest zusammen und der zentrale Platz vor dem Dom musste wegen Überfüllung und zum Selbstschutz der Teilnehmer von den Ordnungskräften abgeriegelt werden. An einer Hauswand ganz in der Nähe des Rathauses wurde ein Schriftzug lichtprojektiert, offiziell von der Stadt Münster, so die Vermutung. Mit dieser Parole wurden in den letzten Jahren, die AFD-Toren zum Neujahrsempfang vor dem Rathaus von der auch hier protestierenden Menge lautstark und im Chor empfangen: „Ganz Münster hasst die AFD“. Sehr feinfühlig im Tausch der Perspektive!

Handball EM in Deutschland: Am Sonnabend das Spiel der favorisierten deutschen Handball-Nationalmannschaft gegen den Außenseiter, das während des Turnierverlaufs erstarkte österreichische Team. Gehemmte Deutsche gegen vor Selbstbewusstsein sprühende Österreicher, letztere bis kurz vor dem Spielende mit mehreren Toren Vorsprung in Führung. Das Spiel endete trotzdem remis. Die Österreicher jubelten wie die Sieger, die Deutschen ließen Arme und Köpfe sinken wie Verlierer. Ein deutscher Spieler meinte unmittelbar danach in einem Interview, er würde die Freude der Österreicher überhaupt nicht nachvollziehen können - als wenn sie das Spiel gewonnen hätten. Im Fußball gibt es das Phänomen „Bayern-Dusel“. Ich war schon immer der Meinung, man solle lieber die „Bayern-Arroganz“ in Augenschein nehmen.

Zu den Fakten des aktuellen Turniers der Handballer: Noch nie hatte bis dato eine österreichische Handball-Nationalmannschaft in einem internationalen Turnier überhaupt ein Unentschieden gegen eine deutsche Mannschaft erzielt. In der momentanen Turnierstabelle bleibt Österreich vor den Deutschen, die jetzt fürs Weiterkommen die Hilfe der Mannschaften benötigen, gegen die Österreich noch spielen muss. Diese hingegen können noch aus „eigener Kraft“ das von allen teilnehmenden Mannschaften angestrebte Ziel, das Halbfinale erreichen. Mag dies alles von heutigen Spielergebnissen überholt werden, wenn dann tags drauf, also am morgigen Tag, dieser Beitrag im botenmeister veröffentlicht ist. So what.

Zum dritten und letzten Tatort des Wochenendes: Der sonntägliche TV-Krimi um 20:15 begann mit einer Panne. In den ersten 10 Minuten waren keine Dialoge zu hören. Ein Technikfehler der verantwortlichen Sendeanstalt. Sofort schwappte in den sozialen Medien eine Welle der Wut durchs Land. Drei Beispiele, noch der harmloseren Art: „Keine Sprache seit zehn Minuten und keiner der ARD-Deppen merkt es anscheinend.“ „Elf Minuten ohne Ton und dann kein Neustart, keine Entschuldigung. Aber Hauptsache GEZ kassieren. Ohne Worte.“ „Für 8,6 Milliarden (die GEZ-Gebühren) kann man jetzt auch nicht unbedingt eine Tonspur erwarten.“

Die mittlere der hier genannten Äußerungen unfreiwillig komisch mit den Schlussworten „ohne Worte“! Und zu der sicherlich schon vom botenmeisterLeser bemerkte Diskrepanz der „Ja was denn nun, 10 oder 11 Minuten Dauer - Sendepause“, Fragezeichen: Der Herr (oder die Frau) ohne Worte hat mit hoher Wahrscheinlichkeit noch 1 Minute nachdem das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen wieder in die (Ton)spur zurückgefunden hatte, seiner/ihrer Wut über alle Zeitmaße hinaus so lautstark mündlichen Auskotz, sorry verbalen Ausdruck, verliehen, dass er (oder sie) die gewohnte und gewöhnliche akustische Zweisamkeit, Seit‘ an Seit‘ mit seinem/ihrem Null-Medium, dem High Tech TV Endgerät edelster Sprach- und Bild Güte nicht wahrnehmen, geschweige denn genießen konnte.

Parole, Parole: Deutschland einig Vaterland.

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„Solange man selbst redet, erfährt man nichts“, schrieb die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach vor über hundert Jahren.

Zuhören. Das Positive: Die meisten Menschen sind sich ziemlich sicher, dass sie gut zuhören können. In manchen Erhebungen tendieren die Zahlen zu über 90 Prozent.

Die schlechte Nachricht: Es handelt sich bei dieser Einschätzung höchstwahrscheinlich um einen kollektiven Selbstbetrug. Im Durchschnitt können Erwachsene direkt nach einem Gespräch nur etwa 50 Prozent der Inhalte wiedergeben, die sie gehört haben müssten.

Zuhören ist ein elementarer Teil der menschlichen Fähigkeit, miteinander eine emotionale Verbindung einzugehen. Menschen, die gehört werden, fühlen sich gesehen. Ihre psychologischen Grundbedürfnisse Anerkennung und Wertschätzung werden so gewürdigt.

Die Würde des einzelnen ist eben auch ein Menschenrecht.

Je näher wir uns jemandem fühlen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ihm aufmerksam zuhören. Closeness connection bias nennt man diese Wahrnehmungsverzerrung in der Verhaltensforschung. Nachgewiesen wurde sie in verschiedenen Versuchen, bei denen Testpersonen zunächst mit nahestehenden Personen und dann mit Fremden zusammengebracht wurden. Ergebnis: Diejenigen, zu denen die Versuchspersonen eine enge Beziehung hatten, wurden öfters nicht besser als Fremde verstanden, sondern sogar schlechter.

Kommunikationstrainer beschreiben die innere Haltung, die gutes Zuhören ausmacht, als die Fähigkeit, das eigene Ich für die Zeit einer zwischenmenschlichen Begegnung in eine weniger zentrale Position versetzen zu können. Mit dem Ziel, sich auf die gegenüberstehende Person mit Empathie und einer aufmerksamen Haltung einzulassen. Aber wer nicht die Fähigkeit aufbringt, all die eigenen Gedanken, die einem während des Zuhörens durch den Kopf schießen können, hintenanzustellen, denkt unweigerlich weiterhin wieder nur an seine eigene Agenda. Doch man kann es üben, im Film des anderen zu bleiben und nicht dauernd in den eigenen umzuschalten. Etwa, indem man sich vornimmt, sich dem anderen bewusst zuzuwenden, nicht zu unterbrechen und auch Pausen im Gespräch auszuhalten.

Für die allermeisten Menschen ist es unmöglich, Dinge, die sie wahrnehmen, nicht zu bewerten. Man bewertet Personen, Gefühle, Situationen, Verhaltensweisen. Damit offenbart sich auch gleich das Problem für die aufmerksamen Zuhörer: Beim Bewerten geht es aller meistens mehr um den, der bewertet, als um den, der bewertet wird. Und statt einer Aussage erst einmal so stehenzulassen, wie sie geäußert wird, wirft der Zuhörens unwillige Mensch mit einigen dieser typischen Sätze unterbrechend ein: Ich an Deiner Stelle würde. Das ist richtig/falsch. Das finde ich gut/schlecht. Gutes Zuhören ist ein Zeuge und nicht ein Richter oder Lehrer. Es gilt die Fähigkeit, zu beobachten, statt zu bewerten, als wichtigster Schritt, um achtsamer miteinander umzugehen. Und Bewertungen, die als Hilfsangebote verpackt werden, nennt man Ratschläge. Auch sie sind beim aufmerksamen Zuhören eher hinderlich. „Ratschläge sind auch Schläge“ lautet ein Sprichwort.

Zudem gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Fragen und Sympathie. Personen, die mehr Fragen stellen, insbesondere Anschlussfragen, werden von ihren Gesprächspartnern eher gemocht. Fragen fungieren dabei als zwischenmenschliches Konstrukt, das Verständnis, Bestätigung und Fürsorge ausdrückt. Nur, Fragen, die lediglich dazu dienen, von den anderen Stichwörtern zu bekommen, um wiederum ausschließlich von sich zu erzählen, sprengen natürlich jeden vernünftigen Dialog und führen zu einem einseitigen Monolog.

Die Fähigkeit des empathischen Zuhörens ist eine soziale Tugend, die man auf ganze Gespräche oder einzelne Redeanteile innerhalb einer zwischenmenschlichen Unterhaltung anwenden kann – oder eben nicht. Wer lieber von sich redet, seinen Gefühlshaushalt unbedingt ohne Austausch mit dem Gegenüber zum Ausdruck bringen will, jemand der nicht neugierig ist, andere Erfahrungswerte geringschätzt, sich selbst genügt, sollte seine Lebensführung dann ruhig danach ausrichten. Nur richtig, richtig gut zuhören kann man so nicht.

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Gott erschuf die Zeit, der Teufel den Kalender. Das ist ein Zitat von Erwin Chargaff, Biochemiker und Genforscher (1905-2002).

Das neue Jahr erinnert daran, dass die Erde die Sonne in 365,256363 Tagen in einer elliptischen Bahn umkreist, das sind mit unseren Instrumenten der Zeitmessung 365 Tage, 6 Stunden, 9 Minuten und 10 Sekunden. Danach beginnt die nächste Umrundung. Aus Sicht der Erdoberfläche, aus menschlicher Perspektive also, beginnt nach dem Ende einer jeden Umrundung ein neues Jahr. Gott gehören die Himmelskörper, dem Menschen bleibt die Erdoberfläche. Oder in den prosaischen Worten Wolfgang Paulis, Physiknobelpreisträger (1900-1958) Gott erschuf die Festkörper, aber der Teufel die Oberflächen.

365,256363 Tage! Wie wird aus dieser Tatsache ein Kalenderjahr? Durch Schaltjahre alle vier Jahre, so wie in diesem Jahr, 2024. Der Monat Februar bekommt dann einen zusätzlichen Tag, gemäß der ursprünglichen Festlegung am Ende des Jahres in einem olympischen Rhythmus von vier Jahren. Dies erklärtermaßen, da das Jahr in der Antike, bei den alten Römern, am ersten März begann, zum Frühlingsanfang und somit naturbewusst zu Beginn vieler Lebenszyklen. Allerdings muss selbst die Korrektur der Schaltjahre beizeiten zusätzlich feinjustiert werden. Das geschah bisher mit Hilfe der von der Allgemeinheit kaum beachteten Schaltsekunden. Diese Regelung wird nun mindestens bis zum Jahr 2035 ausgesetzt, da selbst diese winzigen Zeitkorrekturen die sensiblen Computersysteme bei der weltweiten Synchronisierung gefährden. Was dann aus den aufsummierten zeitlichen Unregelmäßigkeiten folgt, ist bis dato noch unbestimmt.

Und damit zu ein paar „teuflischen Details“. Da die Erde wie auch die anderen Planeten die Sonne in einer Ellipse umkreisen, gibt es einen sonnennächsten (Perihel) und einen sonnenfernsten (Aphel) Punkt der elliptischen Bahnen.

Wieso kommt die Erde jedes Jahr zu einem anderen Zeitpunkt in Sonnennähe? Auch hier hilft das Stichwort Schaltjahr weiter: Verständlich, denn es verschieben sich in einem zeitlichen Rahmen die Termine. Weil alle 4 Jahre ein Schaltjahr mit 366 Tagen im Kalender steht. Wenn nach 365 Tagen kalendarisch ein neues Jahr beginnt, so fehlen der Erde noch rund 6 Stunden für eine volle Umrundung der Sonne. Nach 2 Jahren hat die Erde dann schon zwölf Stunden und nach drei Jahren schließlich 18 Stunden Verspätung. Dieses Manko wird ausgeglichen, wenn das vierte Jahr 366 Tage aufweist. Damit ergibt sich eine Jahreslänge von exakt 365,25 Tagen. Dies ist die Länge eines Julianischen Jahres, so nach der römisch-antiken Kalenderreform von Gaius Julius Caesar benannt. Da der Frühlingspunkt der Sonne im Jahresverlauf um 50“,2 infolge der Präzession des Erdkreisels - das ist die ausweichende Bewegung der Rotationsachse - entgegenkommt, ist das Tropische Jahr (die Zeit von Frühlingsbeginn bis zum nächsten) um 11 Minuten und 15 Sekunden kürzer als ein Julianisches Jahr von genau 365,25 Tagen. Doch das spielt für die Frage des Periheltermins der Erde eine vernachlässigbare Rolle. Alles klar?

Das Siderische Jahr wiederum ist gegenüber dem Julianischen Jahr 9 Minuten und 10 Sekunden länger. Das bezeichnet das Jahr, welches vergeht, bis die Sonne von der Erde aus gesehen die gleiche Stellung am Himmel in Bezug auf einen unendlich weit entfernten, jedoch ganz bestimmten, aber auch frei wählbaren Fixstern einnimmt. Die Verschiebung des Periheltermins, also der Änderung des Datums, wann die Erde in Sonnennähe kommt, ist also den Schaltjahren geschuldet. Allerdings ist dies noch nicht die ganze Erklärung. Denn das Periheldatum ändert sich nicht bloß um einen Tag, sondern gleich um mehrere Tage. Der Grund ist, die Erde ist nicht der einzige Planet, der um die Sonne elliptisch kreist. Die anderen Planeten wirken mit ihren Massen ebenfalls auf den Lauf der Erde ein. Die anderen Planeten verschieben den Periheltermin also zusätzlich, mal in die eine, mal in die andere Richtung.

Der Teufel steckt im Detail - und das nicht minder Erstaunliche: Wir können dem Beelzebub inzwischen sehr gut auf die Finger schauen.

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Nicht die Welt, der Mensch kegelt sich gerade aus der Spur: Alle Neune! Neun Fragmente:

1. Über seine Figur Baal im gleichnamigen Stück von 1923 urteilt Bert Brecht: „Er ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft.“

2. Von George Orwell, Autor des Romans 1984, dem dystopischen Roman, in dem ein zukünftiger Überwachungsstaat in naher Zukunft dargestellt wird: "Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, den Menschen zu sagen, was sie nicht hören wollen.“

3. Die Leute halten sich jeweils für unersetzbar und ausnahmslos wichtig, blicken so in irrer Weise auf eine zukünftige Welt. Eine Logik daraus folgt: Wenn schon ICH die Klimakatastrophe nicht verhindern kann, dann wird sie objektiv nicht abzuwenden sein.

4. „Nach mir die Sintflut“ ist der Wahl Ruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation (Karl Marx)

5. „Soll die Welt untergehen oder ich keinen Tee mehr trinken? Ich sage, die Welt soll untergehen, wenn ich nur immer meinen Tee habe.“ Spruch auf Teebecher

6. In politische Umfragen und im Alltag zeigt sich ungehemmte Wut: Flughafenpersonal wird von Reisenden mit Reisekoffern beschmissen, angepöbelt sowieso. Ticket Kontrolleure in den Zügen werden bespuckt, tätlich angegangen. In Fußballstadien gibt’s was auf die Kau- und Fressleisten, dass die Schlauchlippen platzen und der Jammer-Zungenlappen blutet. RTL 2 Zuschauer beschimpfen die öffentlich-rechtlichen Sender als Schrott TV.

7. Penible Erbsenzähler mit Spießergabeln stehen ungeniert neben Leuten, die laut neuster Pisa Studie bei jeder Kleine-Einmaleins-Rechnung immer wieder zum Ergebnis 6 oder 69 kommen, da sie nie was anderes gelernt haben als mit dem Unterleib statt dem Hirn zu denken. Das Leben ist eine Lotterie und mitmenschliche Sekundärtugenden so selten geworden wie ein 6 aus 49 Gewinn.

8. Demokratie heißt „one man, one vote“ In unseren Zeiten ist die Versuchung groß zu rufen: „Kann man auch anders“. Die Demokratie zum Markenkern schleifen und einen Philosophenkönig an die Spitze stellen.

9. Karl Popper (1902 bis 1994): Am Anfang aller großen Denker steht für Popper Platon, der „größte, tiefste und genialste aller Philosophen“ mit seiner demokratiefeindlichen Theorie einer Herrschaft von Eliten, die in der Idee vom autoritär regierenden „Philosophenkönig“ gipfelt, der allein um die Wahrheit weiß. Popper setzt sein Konzept einer offenen Gesellschaft dagegen, die plurale Lebensentwürfe und Gedanken zulässt, ja sogar braucht, um sich weiterzuentwickeln. Also Optimismus: Auf einem Diamanten wächst nichts, auf einem Misthaufen Blumen. Fabrizio De André

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Während der vergangenen Feiertage konnte man die freie Zeit mit Streaming Serien im Weihnachtssessel verbringen. Zum Beispiel mit dem Serienfinale, der sechsten Staffel von The Crown. Das englische Königshaus interessiert mich bedingt, wobei meine Haltung zur Monarchie als Staatsform indifferent ist.

Was mich unbedingt beschäftigt, das sind die Gegensatzpole privat/öffentlich, Pflicht/Neigung, Wahrheit/Lüge, Schein/Wirklichkeit, Familie/Gemeinschaft. Da bietet diese Serie bestes Unterhaltungsmaterial mit Erkenntnissen zur eigenen Lebensbewältigung. Die Protagonisten sind allesamt persönlichkeitsgespalten. Erstaunlich, dass so wenige schizophrene Krankheitsbilder publik werden.

In ihrer Neujahrsansprache kündigte die dänische Königin Margrethe II. ihren schnellen Rücktritt zu Gunsten ihres Sohnes Frederik an. Mitunter bleiben die der Erklärung nicht bedürftigen Gründe, die wahren Handlungsmotive verborgen und werden nicht öffentlich gemacht. Nur, was keine seriöse Zeitung schreiben sollte, der botenmeister darf mal spekulieren.

Ganze Herrschaftsformen stehen weltweit auf unsicherem Fundament; Demokratien, weil freiheitsrelevant gefährdet, Autokratien nur durch Repression eingehegt, Monarchien als geschichtlich überholt gebrandmarkt.

Beim dänischen Kronprinzen, und hier beginnt die unseriöse Spekulation, wurden im letzten Jahr ernsthafte Eheprobleme vermutet. Sensibilisiert durch die TV Serie The Crown wird jetzt eine No-Go-Arena, auf dänisch No-Go-Områder betreten - ein die Staatsform gefährdendes Schauspiel und Minenfeld:

Ein königliches Rückenleiden wird womöglich zu einem Abdankungs- und Ablenkungsmanöver verdichtet. Nur um sicher zu gehen, dass der monarchischen Regierungsform nicht das Rückgrat gebrochen wird. Denn dem zukünftigen König die potenziell verlustig gehende Königsgattin in spe in verschmähter Absicht, das wäre für einen in den Startlöchern stehenden Königinprinzen Frederik rollengefährdend und ein Unheil für die dänische Fahrrad-Monarchie. Margrethes Rücktritt dient also mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit der Beseitigung einer außerehelichen- und Verhinderung einer staatstragenden Affäre und damit der Stabilisierung einer der Stetigkeit garantierenden Thronfolge in weiser, aber ungesunder Adelslogik gekrönter Häupter.

The Crown zeigt dem Publikum solche durch psychisches Toxin geschädigte Verrenkungen, eingeengt zwischen einerseits menschlicher Person und andererseits staatstragender Körperschaft aufs Eindringlichste. Und das auf jedem Zoll Filmrolle, auf gleichfalls höflichstem Niveau.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Königliche Dynastiegeschichte sogar in Schüttelreimen (englisch: „shake rhymes“). Und wenn sich Literatur mit Historie die Krone aufsetzt: Es war einmal ein vom Elternteil mit Trübsinn überschütteter dänischen Prinz mit Namen Hamlet ...

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Fröhliche Gaben zum Fest          Vom Himmel hoch, da komm ich her

Wenn nicht doch noch eine Weihnachtskugel vom Baum aufs Haupt darnieder fällt, keinerlei Sekt-Rakete an Sylvester den Blick trüben wird und die Hl. Drei Könige durch ihr Geschenkgewese Trägheit & Komfort erst gar nicht aufkommen lassen, dann gibt es ein Wiedererscheinen am: 2. Januar 2024 und dann auch wieder regelmäßig ab dem 12. Januar ff. 

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Weihnachten steht vor der Tür. Vom Christlichen Abendland geprägt, ob wir das/ „An Ihn“ glauben oder nicht. Der Verstand redet und widerredet, wer auch nur wenig emotionsflexibel ist, wird in diesen Vortagen melancholisch gestimmt, auch in Erinnerungen versetzt. Mehr Zeit ist vorhanden - ein Geschenk. In den Körpern und den Gliedern, Adventszeit ist fiebrige Zeit, wurde vielleicht kräftig aufgeräumt, Viren- Bakterien- und anderes Erkältungsgewese erfolgreich verstoßen. Ran an staubangesetzte Wandregale. Eine sich aus dem Staub gemachte CD inklusive beigelegtem Zeitungsausschnitt: seit „Alle Jahre Wieder“ nicht gehört! Eine akustische Wunderkerze in diesen letzten Stunden des Jahres!

„Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, so heißt es. „Never send to know for whom the bell tolls, it tolls for thee”, schrieb der englische Lyriker John Donne. Ernest Hemingway stellte diese Zeilen seinem Roman voran: “Wem die Stunde schlägt“. Und nun hält Charlie Haden mit seinem Quartet West dagegen: „Now ist the Hour“. Ist er deshalb unglücklich? Oder gar out of time?

Was da schlägt, das zeigen schon die ersten Takte: die Stunde des humanized jazz, des bewußten Innehaltens im Scherbenhaufen der Moderne. Quartet West präsentiert: Freud und Leid der Welt in 59 Minuten und 40 Sekunden. Im Jahre 1959, als 22jähriger, hatte der Bassist Charlie Haden seinen musikalischen Weg im Umfeld des Saxophonisten Ornette Coleman gefunden. In einer traumhaften Karriere wirkte er an etwa 400 Plattenaufnahmen mit. Keith Jarrett, John Scofield, Bill Frisell, Paul Motian, Egberto Gismonti, Carla Bley, Pat Metheny - seine Ilustre Gesellschaft. Und dann, 1986, die Gründung des Quartet West: Reminiszenzen an das Amerika der vierziger Jahre. „Now Is The Hour“ ist die vierte Platte.

Schon die Orchestereinleitung zum ersten Stück „Here’s Looking At You“ verströmt eine Atmosphäre, wie sie für Hollywood-Filme dieser Zeit typisch ist. Wenn Ernie Watts dann die Melodie auf dem Saxofon bläst, scheint er in einem riesigen Westküstenclub mit Streamline-Ästhetik auf der Bühne zu stehen, während draußen unterm Sternenhimmel Lauren Bacall in wehender Garderobe einer großen Limousine entsteigt: Das ist Sehnsucht nach der Eleganz eines erfüllten Lebens, die da erklingt, nach Glück und Harmonie statt Stress und Therapie.

Charlie Haden spielt hier den Bass ganz schlicht, schlägt nur den Puls der Zeit. Für die Lebendigkeit im Rhythmus sorgt sein Schlagzeuger Larance Marable. Sanft, aber stetig und bestimmt werden die Zuhörer in die Szene geführt - willkommen im Club!

Doch dann: Victor Youngs „The Left Hand Of God” - kein Glamour-Sound, sondern eher ein orchestriertes Kinderlied in sakraler Stimmung, wie alle Streicherstücke auf der Platte arrangiert und dirigiert vom Pianisten des Quartet West, Alan Broadbent. Da lehnt der Clubbesucher plötzlich regungslos am Tresen, in sich gekehrt, gedankenverloren, und lauscht den Tönen, die Charlie Haden tief unter dem Orchester fließen lässt. Auf seinem Vuilliume-Bass von 1840 ersinnt er Improvisationen, von denen der Zuhörer glaubt, sie im gleichen Moment selbst zu erfinden - einen seltene Art von Übereinstimmung.

Haden spielt sparsam, als sei ihm jeder Ton heilig, über ihm die Streicher wie ein Schwarm Fische, darunter er in atemberaubender Langsamkeit. Er nimmt sich alle Zeit der Welt, um durch sein Instrument einzelne Töne manchmal sogar in Farbe und Textur wie auf einem Bild sichtbar zu machen. So bringt er das Publikum zu sich selbst und damit in die neunziger Jahre zurück. Nach viereinhalb Minuten Bass und Streichorchester setzt das Quartett ein, ungebrochen, fast naiv - aber so nah am Herzen der Zuhörer, wie es derzeit kaum ein anderes Ensemble vermag.

Charlie Haden glaubt an die positive Wirkung von Musik. Im Booklet zur CD zitiert er Luis Buñuel: „Unsere Fantasie und unsere Träume dringen fortwährend in unsere Erinnerungen ein, und weil wir alle glauben, dass unsere Fantasie real sei, verwandeln wir letztendlich unsere Lügen in Wahrheit. Sowohl Einbildung als auch Wirklichkeit sind persönlich und werden auf gleiche Weise erlebt, so dass es unerheblich ist, sie miteinander zu verwechseln.“ Ein Trick, um sich nicht mit dem Jazz nach dem Jazz auseinandersetzen zu müssen?

Im Hintergrund stöhnt leis‘ die Avantgarde: Furchtbar, die Leute, es reicht ihnen schon, wenn etwas schön ist, um es gut zu finden.“   Ulrich Paasch in DIE ZEIT vom 22.März 1996: Charlie Haden Quartet West: Now Is The Hour

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Das geflügelte Wort „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ stammt von Platon. Will ich selbst das nicht wissen, dann wähle ich die tote Sprache Latein und sage „Ipse se nihil scire id unum sciat.“ So verstehe ich rein gar nichts und bin laut neuster Pisa Studie in bester Gesellschaft.

Im unüberschaubaren Literaturangebot gibt es diese Freiflächen des Wissens auch. Selbst für Bücherwürmer und Bücherratten. Eine dieser Leerstellen heißt Adelheid Duvanel. Heute kennt die 1996 früh verstorbene Schriftstellerin aus Basel kaum noch jemand. Dabei wurde sie zu Lebzeiten als Erzählgenie gefeiert.

Lesenswerte Literatur sollte unterhalten - das ist hübsch. Sie kann belehren - das ist auch anstrengend. Ist sie kurzweilig, darf das Vergnügen auch länger dauern.

Müssen, Sollen, Können, Dürfen. Literatur muss rein gar nichts. Schon gar kein Moralin und ähnliches Gewese. Eins aber doch. Wiedererkennung in den Figuren. Handlungsstränge und Schicksale, welche die eigenen sein könnten. Spiegelung der eigenen, individuellen Lebensgeschichte. Geschichten sind so verschieden wie die Menschen. Individuell und einzigartig. Das macht Empfehlungen nicht leicht. Denn es heißt, den anderen berücksichtigen und nicht eigene Vorlieben in den Blick nehmen.

Der Klappentext eines Buches ist Empfehlung. Mal klappt es, mal klappt es nicht: Neugierde hervorrufen. Im Fall von Adelheid Duvanel fiel so eine neugierig machende Klappe:

„Ihre kurzen Erzählungen sind Momentaufnahmen aus dem Leben von meist versehrten Existenzen, die sich aber in ihren fatalen Verhältnissen auf unsichersten Grund mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegen. In den Welten, in denen sie leben, fängt immer alles so gut an und endet so entsetzlich schlimm. In ihrem eigensinnigen Beharren auf ihrer Sicht der Welt bewahren sie sich ihre Würde gegen die Zumutungen des Lebens. Ja, Duvanels Figuren finden gerade in der Abweichung vom Verlangten eine Kühnheit, die den Texten ihre umwerfende Energie gibt. Sie sind von hoher poetischer Präzision, jede Figur eine Einzelanfertigung. Ihre Figuren sind hellsichtige, gleichzeitig verstummte Menschen. Trotz ihres manchmal finsteren Inhalts leben die Texte von überraschenden, absurden Wendungen und einer wunderbaren hintergründigen Komik.“

 Adelheid Duvanel:    Fern von hier      Sämtliche Erzählungen

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