Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov hat den diesjährigen International Booker Prize verliehen bekommen. Sein Roman Zeitzuflucht ist mit diesem renommierten Literaturpreis ausgezeichnet worden.
Die Feuilletonkritik hat in erster Linie den Parabelcharakter dieses Romans betont. Die Hauptfigur eröffnet eine „Klinik für Vergangenheit“ in der Alzheimer-Kranke leben. Im weiteren Verlauf bevölkern auch die „Gesunden“ diesen Ort der Erinnerung. Je mehr diese verschwindet, desto wertvoller wird die Vergangenheit, desto unsicherer die Gegenwart, desto beängstigter die Zukunft. Günstige Voraussetzungen in der Tat auch für Populisten jeglicher Couleur mit ihrer Verherrlichung der Vergangenheit und dem Angstmachen vor der Zukunft. Eine Parabel über unsere gegenwärtige Zeit!
Ein genauso wichtiger Aspekt: Wer jemals Umgang mit Personen, erkrankt an Alzheimer hat oder hatte, wird das tiefe Gefühl von Einsamkeit aller Beteiligten (nach)empfinden, wenn er dieses Buch liest. Diese emotionalen Passagen und die Schilderungen unzähliger Facetten von Verlassen-Sein und Verlassen-Werden machen diesen Roman so besonders.
„Ach ja, es gab noch ein kurzes Gespräch, am letzten Tag. Erst da erfuhr ich, dass Gaustín in einem verlassenen Haus in einem kleinen Städtchen am Fuße des Balkangebirges lebte. Ich habe kein Telefon, sagte er, aber Briefe kommen an. Er kam mir unendlich einsam vor und … unzugehörig. Das war das Wort, dass mir damals in den Sinn kam. Nicht zugehörig zu nichts in der Welt, oder genauer gesagt, zur gegenwärtigen Welt. Wir betrachteten den verschwenderischen Sonnenuntergang und schwiegen. Aus dem Gebüsch hinter uns erhob sich eine ganze Wolke von Mücken. Gaustín folgte ihnen mit dem Blick und sagte: Während das für uns einfach nur ein weiterer Sonnenuntergang ist, ist dieser Sonnenuntergang für die heutigen Eintagsfliegen der Sonnenuntergang ihres Lebens. Oder so etwas in der Art. Ohne nachzudenken, sagte ich, das sei doch nur eine abgedroschene Metapher. Er schaute mich verwundert an, blieb aber stumm. Erst nach einigen Minuten meinte er: Bei denen gibt es keine Metaphern. …
… Nach diesem Brief beschloss ich, nicht weiter zu antworten. Er schrieb mir auch nicht mehr. Weder zum nächsten Neujahr, noch zum übernächsten. Allmählich verblasste die Erinnerung, und wenn da nicht einige Briefe wären, die ich immer noch aufbewahre, würde ich wahrscheinlich selbst nicht daran glauben. Aber es sollte anders kommen. Einige Jahre später erhielt ich erneut einen Brief von Gaustín. Ich hatte böse Vorahnungen und es nicht eilig, ihn zu öffnen.“
Georgi Gospodinov, Zeitzuflucht