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Zur Lage des Landes

Es ist klar, es soeben mit einer Gesellschaft zu tun zu haben, die sich leicht triggern lässt, die sehr leicht reizbar ist. Zugleich gibt es keine tiefe gesellschaftliche Spaltung. Die Einstellungen und Meinungen zu zentralen Themen wie Klimawandel, Armut und Reichtum, freiheitliche Grundordnung liegen größtenteils recht nah beieinander. Es gibt allerdings radikalisierte Ränder und eine von ihnen ausgehende Dynamik, die Spaltungen provozieren will und kann. Das heißt, die Gesellschaft ist nicht gespalten, aber es wird gerade fleißig versucht, sie zu spalten.

Beunruhigend sind die hitzigen Anspruchsdurchsetzungskämpfe gegenüber der Politik. Der Konflikt der Landwirte ist kein klassischer Konflikt, bei dem sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüberstehen. Die Politik ist der zentrale Adressat für Besitzstandserwartungen aller Art geworden. Und die Ursache dafür ist eine schwer verunsicherte Bevölkerung, die ahnt, dass es künftig keine Wohlstandsgewinne im bekannten Umfang mehr geben wird.  Das Ergebnis sind gleichwertige Statuskonkurrenzen, also der Versuch, die eigenen Interessen mit harten Bandagen durchzusetzen. Wobei die Politik völlig überfordert ist, alle Ausgleichserwartungen zu erfüllen. Wer am lautesten schreit, kommt womöglich noch mal davon. Das Gleichheitsversprechen kann die Politik nicht mehr lange glaubhaft halten. Und das spüren die Leute intuitiv und wollen es gleichzeitig nicht wahrhaben.

Wenn man Menschen nach ihren Meinungen und Einstellungen fragt, wird viel herumlamentiert. Viele Sätze beginnen mit einer Aussage und dann kommt ein überbetontes Aber: Dieser Ja - Aber-Ismus ist weitverbreitet. „Ich bin kein Ausländerfeind, aber …“ Oder: „Ich habe nichts gegen Lesben und Schwule, aber …“ Oder: „Ich bin auch für den Erhalt der Umwelt, aber wenn es an meine Automobile geht, dann ist over.“ Das, was nach dem Aber kommt, wird nicht ernst genommen, aber (!) genau da liegen die Konflikte. Die Fragen in Umfragen werden in den Antworten wie in der, der deutschen allerliebsten Schule, der Fahrschule, umfahren. Deshalb heißt es ja Umfragen. Erwartungen, welche die Zukunft betreffen, werden dadurch immer schwieriger.

Und dann gibt es diesen starken Rückgriff auf das vermeintlich Traditionelle, den Nationalstaat, das Althergebrachte und eine Abwehr jeder Art von Veränderungszumutungen. Das Narrativ vieler Leute ist: Eigentlich ist unser Alltag noch ganz intakt, wir hatten schon viele Veränderungen, jetzt sind wir erschöpft, das ist einerseits problematisch, aber eigentlich ist unsere Lebenswelt im Lot. Und dann kommt der Staat und setzt uns ein Flüchtlingsheim vor die Nase. Das nehme ich jetzt mal persönlich. Und dann will die Regierung an die Heizung ran. Es reicht ihr also offenbar nicht, dass sie ins Gehege eindringt, sie will an meinen Herd im Haus. Und mit der Impfung dringt sie sogar bis in meinen Körper vor. Und mein Denken will sie auch noch beeinflussen, ich darf das N-Wort nicht mehr sagen, ich muss jetzt gendern. Die staatlichen Autoritäten sind viel zu aktiv, sie bedrohen meine Welt. Auf der anderen Seite dominiert das gegenteilige Gefühl, der Staat tue viel zu wenig, unser Alltag sei zutiefst umweltzerstörerisch, er sei homophob, er beruhe noch immer auf der Herr/Knecht - Ausbeutung. Die Spaltung liegt für mich zwar unterhalb irgendwelcher theoretischen Weltbilder, aber schlimmer noch, die Spaltung findet direkt unter meiner Haut, auf meinen Knochen und in meinen Nervenbahnen statt. So das aktuelle Volksempfinden.

Es gibt nicht nur zwei Gruppen. Die, welche der Politik nicht mehr, und die, die der Politik immer noch vertrauen. Als Drittes gibt es die Politik. Die sogenannten politischen Eliten haben längst ebenso einen Riesenfrust. Die Ampel zum Beispiel macht gerade eine gigantische Entfremdungserfahrung durch. Sie hat durchaus Erfolge, aber niemanden scheint es zu interessieren. Die Spaltung ist, wenn man so will, eigentlich sogar dreiteilig. Deshalb diese unheilige Drei-Einfältigkeit.

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