Anna Mayr schreibt über „Die Elenden“ und die Armut
In einer Plattenbausiedlung im Ruhrgebiet als Tochter zweier Hartz-IV-Bezieher aufgewachsen, weiß Anna Mayr, was Armut in Deutschland bedeutet. Heute arbeitet sie als Journalistin bei der Wochenzeitung Die Zeit und kennt beide Welten: die des Elends und die des Wohlstands. Mit „Die Elenden“ ist ihr ein Buch voller Sachverstand und berechtigter Wut gelungen.
Weil er ein Brot gestohlen hat, wird der Protagonist in Victor Hugos (1802-1885) berühmten Roman „Die Elenden“ zur Zwangsarbeit verurteilt. Das Buch wurde 1862 zum Skandal, weil es soziale Fragen schonungslos thematisierte. 16 Jahrzehnte später sind diese soziale Fragen – inzwischen anders gestellt, aber nicht weniger dringlich, zum großen Teil auch weiterhin unbeantwortet – nicht gelöst. Vielleicht ist es diese Kontinuität über einen derartig langen Zeitraum, die Anna Mayr veranlasst hat, ihr Buch genau diesen Titel zu geben, „Die Elenden“. Und auch sie hat eine persönliche Geschichte zu erzählen.
Arbeitslosigkeit ist wünschenswert
Woher wissen die Menschen in unserer Gesellschaft, dass sie das Richtige tun – zum Beispiel, wenn und dass sie überhaupt arbeiten? Sie meinen es zu wissen, indem sie beim „Anderen“ auf das scheinbar Falsche, das Gegenteilige schauen: Die Arbeitslosigkeit als die individuell nicht wünschenswerte, jedoch drohend mögliche Gegenwelt. So wird „Hartz IV“ heute zu einem Schreckgespenst, zu einer Gegenwelt. Aus gesellschaftlicher und politischer Perspektive sei Arbeitslosigkeit durchaus erwünscht, so eine von Anna Mayrs Thesen in ihrem Buch „Die Elenden“. Denn Abgrenzung nach außen diene der inneren Identitätsbildung. Das ist bei Fragen zur Migration ja nicht anders. Die Autorin kennt beide Welten nur zu gut aus eigener Erfahrung: in ihrer Kindheit das Gefühl, nicht dazuzugehören, als erwachsener Mensch das Gefühl, dort nie mehr dahingehören zu wollen. Allein diese Tatsache verstärkt das Interesse und die Neugier an dem Buch. Zumal es heute immer schwieriger wird, Milieugrenzen über Generationen hinweg zu überwinden, wie es viele soziologische Studien zeigen.
Anna Mayr: „Wenn man davon ausgeschlossen ist, dann hat man gar nicht die Chance, sich eine Identität aufzubauen. Dann geht man zu billigen Mode-Ketten, da kann man zwar wählen, aber man sieht den Sachen an, dass sie für wenig Geld gekauft wurden.“ Armut wird zum Stigma: Draußen bleiben, wer nichts hat!
„Anna Mayrs Buch ist aufrüttelnd. Es verändert unseren Blick. Und bestätigt: Menschenwürde ist unteilbar. Sie gilt für alle, auch für Arbeitslose.“ (Hilka Sinning, TV-Beitrag aus Das Erste: titel thesen temperamente, 26.07.2020)
Zur Stigmatisierung sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge: „Kein Armer im Slum in Nairobi muss sich rechtfertigen dafür, dass er arm ist. Aber der Hartz-IV-Bezieher, der wird verachtet und verächtlich gemacht, er wird als Hartzer beschimpft und verlacht, weil er den Leistungsnormen unserer Gesellschaft nicht entspricht und weil sich durch seine soziale Ausgrenzung die Mittelschicht besser fühlt, weil sie selbst nicht von dieser Armut betroffen ist.“
Die Hartz IV-Spirale: Arme Eltern haben arme Kinder und arme Kinder arme Eltern
Doch nicht nur allein auf der psychologischen Ebene wird Arbeitslosigkeit benötigt, selbstverständlich auch auf der wirtschaftlichen. Und beide bedingen sich gegenseitig. Schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, die prekäre Lebenssituationen spiegeln, dafür braucht es etwas, was schlimmer und beschämender ist, und das ist die Arbeitslosigkeit.
In ihrem Buch plädiert Anna Mayr dafür, unsere Ansichten über Arbeit und Arbeitslosigkeit neu zu überdenken: „Es wäre gut, wenn wir uns alle fragen würden: Was ist wichtig an mir? Ist es nur die Tatsache, dass ich arbeite, oder sind es auch noch andere Dinge? Dann könnten wir auch eine größere Weichheit dem Arbeitslos-Sein gegenüber entwickeln und dem Nicht-Arbeiten.“
Die Autorin schlägt unter anderem vor, Geld, welches für Psychologen*, Sozialarbeiter* und Jugendhelfer* ausgegeben wird, die alle vom Staat bezahlt werden und in der Summe teurer sind, als die Kosten des Hartz-IV-Systems direkt den Armutsbetroffenen zu geben. Sie glaubt, dass könne deshalb funktionieren, weil Teilhabe in unserer Gesellschaft allein über Geld funktioniere.
Diese Idee ist schon deshalb interessant, weil es an die Diskussionen um das bedingungslose Grundeinkommen erinnert und die Fraktionen, die dafür oder dagegen sind, durcheinanderwirbelt. Die Arbeit ist so tief in der DNA der Gewerkschaftsbewegung verankert, dass dort deren Infragestellung größtenteils auf Ablehnung stößt. Auf Seiten der Unternehmer, der Wirtschaft dagegen gibt es immer mehr Stimmen, die genau das befürworten, die herausragende Stellung des Faktors Arbeit in unserer Lebenswelt kritisch zu hinterfragen.
Christoph Butterwegge sieht den Vorschlag skeptisch, Beratung und Betreuung der Leistungsempfänger* abzuschaffen - höherer Mindestlohn, gerechtere Steuerpolitik, Anhebung der Hartz-IV-Sätze, das sind seine Vorschläge.
„Anna Mayrs Furor ist wichtig inmitten eines politischen und medialen Palavers voll Gratismut, das Solidarität predigt und soziale Kälte lebt.“ (Christian Baron, der Freitag, 20.08.2020)
Wut spielt in dem Buch von Anna Mayr eine bedeutende Rolle. Sie erzählt eine Geschichte aus ihrer Jugend, wie sie diese Wut übermannte, als sie mal zu Besuch bei einem Freund war, der wohlhabende Eltern hatte und sie dort Alltagsgegenstände vorfand, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte, zum Beispiel riesengroße Eisspender in einem Kühlschrank, solche Dinge. Damals, berichtet sie, richtete sich die Wut gegen ihre Eltern, die sich derartige Sachen nicht leisten konnten und sie begriff erst später, dass nicht die Eltern für diesen Mangel verantwortlich waren, sondern dass sehr oft lediglich der Zufall des Lebens bestimmt, an welchen geografischen und sozialen Ort man „geworfen“ wird.
Da sie beide Welten kennt, die sich jedoch immer weniger mitzuteilen haben, ist Anna Mayr sensibler als andere, wenn sie im neuen Milieu als erfolgreiche Journalistin auf Ignoranz gegenüber sozialer Ungleichheit trifft. Ihr Buch ist kein Betroffenheitsjournalismus, dennoch stellt sich auch hier die Frage, wieviel eigene Erfahrung man kommunizieren soll, wenn sogenannte soziale Überläufer die soziale Frage thematisieren. Abgesehen von der erwähnten Anekdote erfährt man in dem Buch kaum etwas über ihre Familie. Die Autorin begründet das mit ihrem Anliegen, nicht das einzelne Individuum in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die gesellschaftlichen Rollen, welche die jeweiligen Individuen in unserem gesellschaftlichen System einnehmen.
Was unweigerlich zum Anfang zurückführt: Es ist trivial und banal, aus subjektiver und persönlicher Sicht, das Phänomen Arbeitslosigkeit mit allen denkbaren negativen Attributen zu versehen.
Es ist ein großer Verdienst des hier vorgestellten Buches von Anna Mayr ist es, uns zu verstehen zu geben, dass Arbeitslosigkeit durchaus auch sinnvolle Bedeutungen hat. Sinnvolle Bedeutungen für eine ungerechte Welt. Insofern ist das Buch ein Skandalbuch im wahren Wortsinn.
Anna Mayr: Die Elenden - Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag GmbH & Co.KG, 2020
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